Beim Spitzentanz mit seinen eigenen Ansprüchen tut sich das motorisierte Blech schwer: "Autoballett".

Foto: Erli Grünzweil

Wien – Autofahren hat eine skurrile Romantik. Ein bisschen berädertes Blech, und fertig ist die Selfiekiste: Zeig mir deinen Wagen, und ich sag dir, wer du bist. Mit einem Schweizer Autoballett hat Kira Kirsch freitagnachmittags zu ihrem Einstand als neue Leiterin des Brut im Künstlerhaus Stellung bezogen. Tanz geht auch an der frischen Luft. Und am Abend hub ein Performancemarathon mit einem astronomischen Ereignis an: dem Urknall.

Zum Begriff "Ballett" entwickelte das 2006 gegründete Zürcher Kollektiv mercimax (unter anderen Karin Arnold und Jessica Huber) eine neckische Beziehung. Motorisiertes Blech wird ja öfters spaßeshalber zum Tanzen gebracht. Der Spitzentanz mit seinen akrobatischen Drehungen und Sprüngen stellt da ganz eigene Ansprüche. Die waren für die 14 ganz normalen Fahrerinnen und Fahrer des Autoballett etwas zu hoch.

Lenkende und ihre Gefährte

Was das Publikum von Beginn an gern hinnahm, als man sich ein Auto für die Beifahrt vom Brut-Vorplatz hinunter nach St. Marx und eines für die Mitfahrt zurück aussuchen konnte. Während der Hinreise wurde man über die Lenkenden und ihre Gefährte informiert. Auch der Rückweg brachte Informationen darüber, wie der Kopf hinter dem jeweiligen Lenkrad tickt. Was wirklich interessant sein konnte.

Drunten bei der Marx-Halle gibt es den großen, noch freien Platz des einstigen Viehmarkts. Dort führten die Automobilisten eine behutsame Choreografie auf und gaben je eine Stellungnahme dazu ab, welche Verhältnisse sie zu ihren Gefährten haben. Als Aufmunterung für das frierende Publikum gab es heißen Tee.

Zurück im Brut, konnte sich, wer wollte, die Folgen der Umbauten im Theater ansehen. Zum Beispiel das Männerklo. Dort waren die Urinale bis vor kurzem mit dem Namen "R. Mutt" versehen. Ein witziger Verweis auf Marcel Duchamps so signiertes skandalumwittertes Readymade Fountain aus dem Jahr 1917. Auf den neuen Muscheln steht nur noch ein Firmenname. Das Brut unter Thomas Frank und Haiko Pfost hatte Stil, wirkte flexibel, sophisticated und improvisiert. Das hat sich jetzt verflüchtigt.

Kaltgrau statt verkommen

Die stimmungsvoll verkommene Bar wurde kaltgrau wie eine neondepressive Aufbahrungshalle für Altyuppies. Und im Foyer steht jetzt, wo früher Installationen, Konzerte und Performances zu erleben waren, eine traurige Garderobenbarriere. Zu verdanken ist das dem Architekturbüro Feld 72. Zu dem, was die abweisende Grafik des Theaters jetzt ist, wurde ein "Brand Consultant und Strategist für internationale Marken" (Zitat Brut-Pressemappe) aus New York herangezogen. Das "strategistische" Ergebnis ist eine Brandstiftung an der Brut-Identität nach Beamtengeschmack und mit kontextfrei flottierenden Sprüchlein.

Aber immerhin hat der anschließende Performancemarathon mit dem Auftritt des Astrophysikers Bodo Ziegler und seiner anschaulichen Darstellung des Big Bang begonnen. Gudrun Harrer, Nahost-Spezialistin des STANDARD, machte die Komplexität des Europa betreffenden Flüchtlingsthemas deutlich. Eine Dolmetscherin erzählte von einem der vielen todtraurigen Flüchtlingsschicksale. Und Theater im Bahnhof mietete einen Opernsänger als "Zeitarbeiter". Das Publikum erfreute sich, drei Stunden lang auf harten Holzstufen sitzend, unterschiedlich intensiv an 25 teils exzellenten Beiträgen. (Helmut Ploebst, 1.11.2015)