Die Johannesgasse-Solisten (David Tebbe, Elvind Berg, Senta Lauter, Atilia Kiyoko Cernitori (v. li.) leben und musizieren unter einem Dach. Hier im Antonio-Vivaldi-Saal in der Johannesgasse 8.

Foto: Andy Urban

Wien – Kärntner Straße, Freitag, 14 Uhr. Nahe dem Stephansdom geben zwei junge Straßenmusiker mit Hut und Lederjacke die Akustikversion von "Teenage Dirtbag" wieder. Ein paar Meter weiter sitzt ein Mann mit Pferdekopf, sein Akkordeonspiel verbreitet melancholische Stimmung. Zumindest für zwei Minuten, dann tönen Tangoklänge aus einer Anlage. Noch rechtzeitig vor der Opernsängerin kommt die Abbiegung zur Johannesgasse. Das Haus mit der Nr. 8 haben seit Sommersemester Mu sik studierende bezogen, seit Oktober in voller Belegung mit 120 Bewohnern. Hier befindet sich das einzige Studentenheim für Musiker der Hauptstadt. Zwischen 2008 und 2015 gab es in Wien keine derartige Unterkunft.

"Du wohnst mitten in der Altstadt und wirst morgens von der Ursulinenkirche geweckt", sagt Atilia Kiyoko Cernitori, die Dirigieren studiert. Sie ist eine der Bewohnerinnen des Heims für die Universität für Musik und dar stellende Kunst und das Konservatorium des gemeinnützigen Vereins Österreichische Jungarbeiterbewegung (ÖJAB). Das Haus blickt auf eine lange Geschichte zurück.

Von 1660 bis 1960 lebten hier Ordensschwestern der Ursulinen und führten eine Mädchenschule. Seit 1960 besitzt die Republik Österreich das Gebäude. Die Apotheke der Ursulinen ist erhalten, auch die Beichtkammer. "Falls jemand sich etwas von der Seele reden möchte", scherzt Heimleiter Konrad Prommegger. Er wohnt mit seiner Frau ebenfalls im Haus. Auf eine familiäre Atmosphäre wird hier viel Wert gelegt. Die ÖJAB-Geschäftsführerin Monika Schüssler kennt alle Bewohner mit Namen. Jeder ist hier per du.

Zimmer ab 332 Euro

Ein studentisches Ensemble, das sich hier gefunden hat, sind die Johannesgasse-Solisten. Cernitori ist ihre Dirigentin. Das Projekt sei in der Gemeinschafts küche entstanden, erzählt sie. Nach gemeinsamem Mahl habe man beschlossen, auch gemeinsam zu musizieren.

Im Wohnheim sind 37 Nationen vertreten. Die Zimmermieten beginnen ab 332 Euro pro Monat für einen Platz im Doppelzimmer. Wer körperliche Ertüchtigung sucht, wird im Fitnessraum fündig. Der größte Unterschied zu anderen studentischen Wohnformen ist das gegenseitige Verständnis für lange Proben, sagen die Bewohner.

David Tebbe, Violinstudent, berichtet von der Zeit, bevor er in die Johannesgasse gezogen ist: "Ich hatte in einem anderen Heim einen Mitbewohner, der Heavy Metal laut aufgedreht hat, um meine Violine zu übertönen."

Nockerln mit Sonett

In der Johannesgasse kommt es hingegen vor, dass im Speisesaal ein Bach-Sonett zu den Eiernockerln serviert wird. Auf einem Aushang ist zu lesen: "Findest du es traurig, alleine zu singen?" Sänger für einen Chor werden gesucht.

Einzig die Kameras in den Ecken der Gänge stören das familiäre Flair. Geht man die langen Flure mit jahrhundertealten Pflastersteinen entlang, erkennt man, warum hier videoüberwacht wird. Dort stehen in prunkvollen Wandnischen barocke Heiligenfiguren des Theatrum sacrum. Ein lebensgroßer Jesus am Kreuz überblickt die Studierenden, an anderer Stelle sieht Francesco Borgia fragend in das Gesicht des Betrachters. Ob er zufrieden wäre mit den neuen Bewohnern? "Es ist wie ein Leben im Museum", erzählt Atilia. "Das hat seine Vor- und Nachteile."

Das gesamte Gebäude steht unter Denkmalschutz. Ein grünes Refugium bietet der Garten im Zentrum des Hauses. Im Keller sind die Proberäume untergebracht. "Die einzige Regel ist: Mehr als drei Stunden am Stück proben geht nicht", sagt Tebbe. Gerade wird hier Mendelssohns Pianotrio einstudiert.

Notenständer platzieren

Zurück im Erdgeschoß richten Studierende den Antonio-Vivaldi-Saal her, Stühle werden zurechtgerückt, und Notenständer platziert. In einer Stunde findet ein Workshop mit dem renommierten Pianisten Alfred Brendel statt, da muss alles an seinem Platz sein. Unterdessen stimmt draußen auf der Straße der Mann mit dem Pferdekopf "Like a Virgin" auf seinem Akkordeon an. (Kristina Nedeljković, 20.11.2015)