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Pränataldiagnostik wird oft kritisiert.

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Kirsten Achtelik: "Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung". Verbrecher-Verlag, Berlin 2015.

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Die Diskussion über Abtreibung hat auf feministischer Seite eine Schwachstelle, auf die Kirsten Achtelik mit ihrem Buch "Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung" hinweist: und zwar eine, freundlich ausgedrückt, nicht sehr klare Haltung zu eugenischen Argumentationslinien in der Pro-Choice-Haltung.

Was in den 1970er-Jahren noch offen ausgesprochen wurde – dass es nämlich doch selbstverständlich eine Zumutung sei, ein behindertes Kind zu bekommen –, wird heute etwas verschämter formuliert, nämlich als zu erwartende psychische Belastung für die Mutter. Aber gleichzeitig hat sich die Pränataldiagnostik praktisch zur Standardprozedur entwickelt, entsprechende Untersuchungen werden von den Krankenkassen bezahlt und als "Prävention" verkauft. Dabei handelt es sich keineswegs um Prävention, sondern um Selektion: Das Auffinden von "Abnormalitäten" beim Fötus dient ja nicht dazu, eine Krankheit oder Behinderung zu heilen oder besser versorgen zu können, sondern in der Regel als Entscheidungsgrundlage für eine Abtreibung. Es geht also um eugenische Selektion, nicht um Vorsorge.

Parallele zur pränatalen Geschlechtsselektion

Kirsten Achtelik nimmt in ihrem Buch eine klare Haltung gegen solche behindertenfeindlichen, "ableistischen" Narrative und Praktiken ein. Sie zeigt, dass das möglich ist, ohne den feministischen Grundkonsens – nach Abschaffung des Paragrafen 218 – aufzugeben: Man kann kohärent argumentieren sowohl für reproduktive Selbstbestimmung von Frauen* als auch gleichzeitig gegen Behindertenfeindlichkeit. Was umso wichtiger ist, als gerade konservative Abtreibungsgegner_innen sich derzeit als Vorkämpfer für die Lebensrechte behinderter Menschen inszenieren.

Die Grenze, zeigt Achtelik, ist dabei relativ leicht zu ziehen: Geht es darum, dass eine Schwangere aus Gründen, die sie selbst betreffen, entscheidet, kein Kind haben zu wollen und also abzutreiben? Für dieses Recht einzutreten ist vollkommen legitim. Oder aber geht es darum, aus Gründen abzutreiben, die eben nichts mit der Schwangeren selbst zu tun haben, sondern mit einer (nicht zufriedenstellenden) Beschaffenheit des noch ungeborenen Kindes? Dies ist abzulehnen. Die Parallele, die Achtelik hier zieht zwischen einer pränatalen Geschlechtsselektion (die von Feministinnen übereinstimmend kritisiert wird) und einer Selektion in Bezug auf Behinderung (die von vielen Feministinnen als Teil der legitimen reproduktiven Selbstbestimmung gesehen wird), finde ich völlig richtig.

Übergewicht als Abtreibungsgrund

Zumal man sich auch mal klarmachen muss, dass es hier nicht, wie man meinen könnte, um gravierende Fälle von schwersten Behinderungen geht. Weit über 90 Prozent von Embryonen, bei denen Trisomie 21 diagnostiziert wird, werden abgetrieben – und das ist ja nun ganz offensichtlicherweise keine Behinderung, bei der das Leben nicht mehr lebenswert wäre. Achtelik zitiert eine Studie, wonach sogar mehr als die Hälfte der Befragten angibt, dass sie es für einen Abtreibungsgrund halten würden, wenn bei einem Embryo vorhergesagt werden könnte, dass das Kind später einmal Übergewicht hat.

Also: Hier ist ein blinder Fleck, eine Leerstelle in der feministischen Debatte um "Selbstbestimmung", wobei man fairerweise sagen muss, dass Feministinnen auch die ersten waren, die Anfang der 1980er-Jahre vor den erwartbaren Folgen von Gen- und Reproduktionstechnologie gewarnt haben.

Reproduktive Selbstbestimmung ohne Selektion

Auch all diese historischen Fakten lassen sich in diesem Buch wunderbar nachlesen: Die Abtreibungskampagnen (inklusive der Details zur "eugenischen Indikation"), die Entwicklung und Ausbreitung vorgeburtlicher Untersuchungen, ein historischer Rückblick zum Thema Eugenik insgesamt, die Aktivitäten der Krüppelbewegung, die feministischen Kongresse gegen Reproduktionstechniken, die Argumentationen der sogenannten "Lebensschützer" und schließlich aktuelle feministische Kontroversen.

Am Ende macht Achtelik konkrete Vorschläge dafür, wie reproduktive Selbstbestimmung ohne Selektion umgesetzt werden kann: Abschaffung der Krankenkassenfinanzierung für selektionsorientierte pränatale Diagnostik, bessere Aufklärung und Beratung von Schwangeren bereits vor den Untersuchungen (und nicht erst nach einem positiven Befund), Abschaffung des Paragrafen 218, Einsatz für eine wirklich inklusive Gesellschaft. Sehr lesens- und bedenkenswert! (Antje Schrupp, 20.11.2015)