Körper, die sich dehnen, wiegen und in somnambule Zustände geweht werden: "Zeit-Bild" in Salzburg.

Foto: Wolfgang Lienbacher

Wien – Es geschieht überall: Die Zeit entzieht sich oder lässt spüren, wie es sich anfühlt, wenn sie zäh wird. "Doch alle Lust will Ewigkeit", spricht Nietzsches Zarathustra, "tiefe, tiefe Ewigkeit." Im Tanz ist Zeit Arbeitsmaterial – und immer wieder Thema. Auch am Wochenende, als sich der französische Choreograf Étienne Guilloteau und der belgische Pianist Alain Franco für die diesjährigen Dialoge des Salzburger Mozarteums zusammengetan haben, um ein Zeit-Bild zu komponieren. Es wird am 22. Jänner beim Salzburger Festival Performing New Europe wieder zu sehen sein.

Zeit der Philosophen

Vor einem Jahrhundert hat Albert Einstein die Zeitdilatation beschrieben. Wer beispielsweise eine Reise zu dem 28 Lichtjahre entfernten Stern Zeta Tucanae unternimmt, käme bei einer Beschleunigung von einem Meter pro Quadratsekunde um weniger als 14 Jahre älter zurück, während daheim mehr als sechs Jahrzehnte vergangen wären.

Ganz anders hatte der französische Philosoph Henri Bergson 1889 in seiner Dissertation über Zeit und Freiheit die Zeit mit Blick auf die Intensität unserer "psychologischen Zustände" untersucht. Diese unterschiedlichen Perspektiven enthielten grundsätzliches Konfliktpotenzial. Prompt kritisierte Bergson 1922 den Physiker, worauf dieser sagte: "Die Zeit der Philosophen existiert nicht."

Guilloteau und Franco halten es eher mit Bergson. Ihr Zeit-Bild aus Tanz und Musik ist Ergebnis eines Tauchgangs in die Welt psychischer Zeiterfahrungen. Guilloteau hatte vor der Uraufführung im Salzburger Republic sechs Wochen lang mit neun Tänzerinnen und Tänzern der Salzburg Experimental Academy of Dance geprobt. Das Österreichische Ensemble für Neue Musik arbeitete mit Franco an der musikalischen Struktur mit Werken von Morton Feldman, Beat Furrer, Ligeti, Ravel, Mozart und Elliott Carter.

Das Stück beginnt mit Feldmans For Aaron Copland, einem Violinensolo, das den Tanz langsam auf die Bühne lockt. Dort bedient Étienne Guilloteau einfache, wenig akzentuierte, dafür aber fließende Bewegungsmuster. Im Zeit-Bild wird nicht wirklich psychologisiert – es gibt kein menschliches Drama, keine inneren Zerrissenheiten oder Charakterdarstellungen. Trotzdem sind die Tänzer nicht abstrahiert.

Gedehnte Zeit

Sie bringen ihre Eigenheiten mit, und sie bewegen sich wie entrückt in ein freundliches Miteinander. Zeit ist hier wie ein Schwamm, der, von der Musik in komplexen Druck- und Zugverläufen umgeformt, etwas Betäubendes absondert. Etwas, das den Körper dehnt, wiegt und in somnambule Zustände weht.

Alain Franco führt in seiner Mischung der Musikstücke eine Alchimie vor, deren Ingredienzien ausgesprochen wirksam in Guilloteaus feine Tanztexturen sickern. Die Tänzer teilen sich die Bühne mit ihm und dem siebenköpfigen Musikensemble, wobei die Instrumentalisten hier nicht eigens choreografiert werden.

In irritierendem Unterschied zu diesen deutlich erkennbar Erwachsenen erscheinen die Tanzenden, die noch studieren, sehr jung. Dadurch wirken sie wie in die Stimmmungwelt einer modernen Feerie versponnen, während sie ihre Konstellationen doch sehr bewusst zwischen Konzentration und trancehaften Zuständen einspannen. Ab und zu wechseln sie ihre Kleider, der Farbton auf der Bühne changiert.

Diesem Zeit-Bild liegt zwar ein musikgeschichtlicher Plan zugrunde, aber es verweigert jeglichen Kommentar zur zeitgeschichtlichen Gegenwart. Das ist auch ein Statement. (Helmut Ploebst, 30.11.2015)