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Sarah Wiener (53) musste in den letzten Jahren mehrere Lokale schließen. Jetzt betreibt sie nur noch ein Restaurant in Berlin und ist Biobäuerin.

Foto: EPA / Britta Pedersen

Mit Wollmütze, Rucksack und in Jeans schneit Sarah Wiener in ihr Restaurant im Museum Hamburger Bahnhof in Berlin und begrüßt überschwänglich ihre Mitarbeiter. Betont lässig, fast schon kumpelhaft und so gar nicht verkrampft wirkt die Unternehmerin, die von sich selbst behauptet, schlecht in Sachen Marketing zu sein. Und doch überlegt sie ganz genau, zu welchen Themen sie Stellung bezieht und welche sie lieber aus dem Interview streichen lässt.

Viel zu oft hat die TV-Köchin mit polarisierenden Aussagen für Gesprächsstoff gesorgt. Erst kürzlich kritisierte Wiener öffentlich vegane Fleischersatzprodukte und war damit Thema in unzähligen Medien und Foren. Ist dies das schlechte Marketing, von dem sie spricht? Neben diesen und anderen öffentlichen Auftritten, wie ihrer neuen Fernsehserie, hat die Geschäftsfrau im neuen Jahr auch einiges Gutes vor. So betreibt sie seit kurzem einen Biobauernhof, und sie will mit ihrer Stiftung Millionen von Kindern in Deutschland das Kochen beibringen. Es gibt also noch genug zu tun.

STANDARD: Sie bezeichnen sich selbst als Köchin. Wäre Nachhaltigkeitsbotschafterin nicht passender?

Wiener: Ich finde, wenn man eine ernsthafte Köchin ist, geht das eine nicht ohne das andere. Ernsthaftes Kochen fängt ja nicht beim Schneidbrett an, sondern beim Samenkorn. Dieser letzte technische Schritt eines Kochs ist ja nur das letzte Glied in einer langen Kette. Guten Köchen ist achtsamer Umgang mit dem Essen wichtig.

STANDARD: Macht das nicht ohnehin jeder Koch?

Wiener: Leider nicht. Nur wenige, die sich mit Kochen beschäftigen, bedenken den ganzen Kreislauf. Es gibt tolle Köche, die technisch sehr versiert sind und toll kochen können. Es gibt aber leider wenige, die etwas über die Verarbeitung oder Landwirtschaft sagen können. Deshalb habe ich mich auch in den letzten Jahren genau darauf konzentriert. Ich koche natürlich immer noch gerne, aber ich habe diesen inneren Drang, auch ernährungspolitisch tätig zu sein.

STANDARD: Woher kommt dieser innere Drang, sich so für Ernährung einzusetzen?

Wiener: Das war ein Prozess. Irgendwann dachte ich mir, es muss Menschen geben, die den Finger in die Wunde halten und sich die Mühe machen, hinzuschauen, wenn andere wegschauen. Schließlich ist es unser Boden, auf dem wir leben. Eines Tages haben mich Leute gefragt, was Qualität ist. Ich musste mir selbst die gleiche Frage stellen. Das war der Anfang eines Denkprozesses, der bis heute anhält.

STANDARD: Und was ist Qualität?

Wiener: Qualität ist zum Beispiel eine frische gelbbuttrige regionale Kartoffel, wie man sie von früher kennt – heiß gegessen mit einem Hauch Salz und einem Stück Butter. Mehr braucht es nicht. Ein unvergleichlicher Geschmack, den wir kaum mehr kennen.

STANDARD: Die Kartoffel allein reicht aber heutzutage offenbar nicht mehr. Warum sucht man immer nach neuen Ernährungsweisen?

Wiener: Das Problem ist, dass kein Wirtschaftssystem viel am Grundnahrungsmittel, also der Kartoffel, verdient. Der Handel macht viel weniger Geld mit einem Apfel als mit Apfelmus. Es geht eben um ein Geschäftsmodell und nicht um gesundes Essen oder Genuss. Wir werden wie der Stier am Nasenring durch die Manege geführt und essen das, was uns vorgesetzt wird, weil andere daran verdienen oder weil es einfach machbar und reproduzierbar ist.

STANDARD: Damit meinen Sie auch den Veganismus. Sie haben ja öffentlich vor veganen Fleischersatzprodukten gewarnt.

Wiener: Ich wollte kritisch hinterfragen, was es bedeutet, wenn eine Gruppe von meist aufgeklärten, ernährungsbewussten Menschen glaubt, sie hätte eine Lösung für ein Problem gefunden, das komplexer ist, als es auf den ersten Blick scheint. Veganer haben die industriell hergestellte Nahrung nicht erfunden. Die gibt es schon seit mehr als 50 Jahren. Die neuen Surrogate und Kunstimitate, als Ersatz für tierische Produkte, dringen in eine neue Dimension der Künstlichkeit und Normierung ein, die wir nicht unterstützen sollten.

STANDARD: Aber ist das nicht jedem selbst überlassen, was er isst?

Wiener: Natürlich! Jeder soll essen, was er will. Wenn jemand gerne Vitamine in Tablettenform zu sich nimmt, soll er das auch machen. Allerdings hat das private Essverhalten eine Auswirkung auf die Umwelt und auf künftigen Generationen. Wenn ein Konzern konventionelle Monokulturen anbaut und Spritzmittel verwendet, verseucht er unser aller Grundwasser. Allein auf tierische Produkte zu verzichten und statt Honig plötzlich Industriezucker zu essen wird die Probleme nicht lösen.

STANDARD: Sie meinen, Veganer sind nicht die Weltverbesserer, für die sie oft gehalten werden?

Wiener: Ernährung ist sehr komplex. Leider gibt es keine einfache Lösung. Zumindest habe ich persönlich keine. Aber wenn man sich Gemüse von irgendwo auf der Welt importieren lässt oder auf Obst aus konventionellem Anbau zurückgreift, ist das heuchlerisch. Außerdem ist das kein System, das sich auf die ganze Welt umlegen lässt. Es wäre absurd, Menschen in Bangladesch zu sagen, dass sie sich vegan ernähren sollen. Das geht ja nur in einer dekadenten mitteleuropäischen Schicht, zu der ich mich auch zähle. Das muss man sich schon gefallen lassen, wenn man es ernst meint mit der Ernährung.

STANDARD: Sie legen sich immer wieder mit großen Konzernen an und hinterfragen Dinge kritisch. Ist das nicht wahnsinnig anstrengend?

Wiener: Meine Überzeugungen zu verleugnen wäre anstrengender. Es ist mir wahrscheinlich in die Wiege gelegt worden, nicht still dazusitzen.

STANDARD: Sie werden dafür oft auch von Menschen angefeindet.

Wiener: Und genau das ist doch verrückt. Man muss verstehen, dass nicht die Leute, die eine gesunde nachhaltige Ernährung fordern, unsere Gegner sind. Das System, das dich zum billigen Bittsteller macht und dir ein minderwertiges Schnitzel anbietet, ist es. Aber so ist es natürlich bequemer.

STANDARD: Sie wählen als Aktivistin lieber den unbequemen Weg?

Wiener: Aktivisten muss es immer geben, sonst würde sich nichts ändern. Ich selbst würde mich aber als Forscherin bezeichnen. Das ist wie bei den Bienen. Zwei Prozent von ihnen machen, was sie wollen oder müssen. Die anderen 98 Prozent folgen strikt einem inneren logischen Plan und dem Naturgesetz, beispielsweise auf die gleiche Futterquelle zu gehen. Diese wenigen Bienen, die anderes ausprobieren, sichern aber auch das Überleben des ganzen Volkes in schwierigen Zeiten und ermöglichen Zukunft.

Es ist auch nicht wichtig, dass 100 Prozent der Menschen überkritisch sind und zum Beispiel für gute Ernährung kämpfen. Aber es braucht eben auch hier diese zwei Prozent, die neue Wege gehen und Dinge hinterfragen. Alles hat seinen Sinn und seine Berechtigung.

STANDARD: Sie meinen, die Bienenwelt lässt sich auch auf unsere Welt umlegen?

Wiener: Die Bienen sind äußerst soziale Wesen, demokratisch und selbstlos. Jede Generation arbeitet für die nächste, um das gesamte Überleben zu gewährleisten. Von den Bienen können wir alle viel lernen.

STANDARD: Selbst setzen Sie sich für gute und nachhaltige Lebensmittel ein. Von Ihren Restaurants liest man aber selbst in Fachmedien relativ wenig.

Wiener: Da sehen Sie mal, was ich für eine schlechte Marketingfrau bin. Mein Küchenchef Tino Speer ist ein großartiger Koch und hätte schon lang einen Stern verdient.

STANDARD: Sie haben mit Ihrer Stiftung eine Kooperation mit einer deutschen Krankenkasse an Land gezogen. Worum geht es da genau?

Wiener: Wir bringen in den nächsten fünf Jahren mit der Initiative "Ich kann kochen" 1,5 Millionen Kindern das Kochen bei. Zukunftsforscher sagen, dass es in einigen Jahren den Beruf Koch nicht mehr geben wird. Auch in Privathaushalten wird immer weniger gekocht. Es geht damit eine Fähigkeit verloren, die nicht mehr rückholbar ist. Genau dem wollen wir entgegenwirken. Wenn man Kinder in unseren Kochkursen fragt, woher die Milch kommt, sagen sie: aus dem Supermarkt. Wenn man sie fragt, wie sie hergestellt wird, antworten sie öfters: mit Wasser und weißer Farbe. Wir verlieren zusehends die Fähigkeit und das Wissen über Lebensmittel.

STANDARD: Sie sind jetzt auch Biobäuerin geworden. Wie kam es dazu?

Wiener: Nach der vielen Theorie und der jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Thema war das der logische Schritt. Wenn ich nicht mehr weiß, was ich essen kann, dann schaffe ich mir mein eigenes Vertrauen. Ich habe die Gewissheit, dass da, wo mein Fuß steht, niemand anders seinen Industriefuß hinstellen können wird. Das war eine ganz starke Motivation für mich.

STANDARD: Wenn Sie jemand fragt, wie man Genuss lernen kann, was sagen Sie?

Wiener: Mit Freunden oder der Familie in entspannter Atmosphäre am Tisch zu sitzen und achtsam zu essen – das ist Genuss. Lebensmittel anzuschauen, zu kauen und bewusst zu genießen ist wichtig – und natürlich mit frischen Grundnahrungsmitteln selbst zu kochen.

STANDARD: Würden Sie heute etwas anders machen?

Wiener: Die Frage stellt sich mir so nicht. Und offensichtlich habe ich mir noch nicht genug die Hörner abgestoßen, dass ich still sitzen bleiben und nichts mehr sagen will. Aber ich bin ja noch jung. Mal sehen, wie es weitergeht.

STANDARD: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Wiener: Ich wünsche mir, dass es mehr Menschen mit gesundem Hausverstand gibt, die auch mal Dinge hinterfragen. Damit meine ich keine ausgewiesenen Gutmenschen, sondern einfach Leute mit einer gewissen Grundskepsis. (Alex Stranig, RONDO, 4.1.2016)