Hymnen-Contest und Gefangene im noblen Irrenhaus: "Il Viaggio a Reims" im Opernhaus Zürich.

Foto: Monika Rittershaus

Es geht ihnen so ähnlich wie dem Personal in Buñuels Klassiker über den diskreten Charme der Bourgeoisie: Aus dem Plan, gemeinsam zu essen, wird ein Albtraum.

Bei Christoph Marthalers Fassung von Gioachino Rossinis Reise nach Reims wollen sie alle aufbrechen und bleiben doch in ihrem noblen Irrenhaus gefangen. In der Vorlage von 1825 sind die Pferde verschwunden, in Zürich aber sind sie jedem Einzelnen durchgegangen.

Höherer Bühnenblödsinn

Hier haben alle irgendeine Macke. Sie reden ohne Ton, zucken und verrenken sich, wollen schwimmen gehen und kommen nur mit den Füßen in den Pool, wollen sich verschönern lassen, füllen aber nur dem Chirurgen die Kasse. Eigentlich wollen sie nach Europa aufbrechen, pflegen dann aber doch nur ihre nationalen Macken.

Sie tragen Porträts diverser Promis dauernd hin und her, aber finden keinen Platz, sie aufzuhängen. Sie gehen einander an die Gurgel oder (metaphorisch) zusammen in die Kiste, zumindest mal gemeinsam durch eine der durchnummerierten Zimmertüren. Mit einem Wort: Es marthalert wieder einmal gewaltig in Zürich.

Der schweizerische Europäer Marthaler ist ein Meister des einfrierenden Nonsens und beschleunigten Slapsticks. Auf der Bühne nimmt er sich die Freiheit, dem musikalischen Soufflé von Rossinis letzter italienischer Oper mit der recht mäßigen Stringenz des Auf-der-Stelle-Tretens einer ausgebremsten Reisegesellschaft (die eigentlich zur Königskrönung nach Reims will, aber im Gasthaus festhängt) mit dem ganzen Repertoire des subversiven höheren Bühnenblödsinns aufzupeppen, damit es in der Zugluft scharfer Nachfragen nicht in sich zusammenfällt.

Kongeniale Raumerfinderin

Die kongeniale Raumerfinderin Anna Viebrock hat sich für ihre Version der Goldenen Lilie vom einstigen Bonner Kanzlerbungalow inspirieren lassen und daraus einen Zauberberg für die Europatienten von heute gemacht.

Der Keller mit Heizungsrohren und Abhöranlage ist zum Oberstübchen geworden, das nebenbei auch noch als Lagerraum für die Großkopferten in Öl fungiert. Man erkennt die Queen und Tony Blair, die Kanzler Erhard und Schröder, aber auch den spanischen Carlos oder den Eurospezi Orbán, den Schweizer Rechtsaußen Roger Köppel.

Auch unser aller Fußballoberverdiener Sepp Blatter fehlt nicht. Auf das wir unser Europa erkennen, wie es leibt und lebt – oder sich gerade selbst abschafft. Bleibt es anfangs noch in der Schwebe, ob die Eurofolklore, mit der Marthaler sein subversives Umkreisen der Musikalität diesmal aufmischt, Zufall oder Absicht mit Hintersinn ist, werden nach der Pause alle Zweifel ausgeräumt: durch die Gruppenbilder, wie man sie von den diversen Gipfeltreffen kennt, und einen persiflierenden Hymnen-Contest, bei dem Rossini im deutschen Fall sogar die echte Hymne antizipiert.

Dann aber gibt es einen Eurocrash, der unter die Haut geht: Flugzeugtrümmer und einige Akteure liegen verstreut auf dem Boden. Die restliche Gesellschaft läuft immer wieder gegen die Wand. Am Ende wird das gemeinsame Vivat für Frankreich zu einem angsterfüllten Pfeifen im Walde.

"Librettostörung" wegen Paris-Terror

Mit dem Rücken zur Wand und ohne viel Hoffnung, dass wir alle das schaffen können. Über diese Fallhöhe, die souverän die Sprachlosigkeit nach den Pariser Terrormorden vom 13. November aufnimmt, ist man bei dem sonst so augenzwinkernd motzenden Marthaler dann doch verblüfft. Dazu wird nicht der Text, sondern "vorübergehende Librettostörung" eingeblendet.

Daniele Rustioni (der 2017/ 2018 Chefdirigent der Oper in Lyon wird) hat es nicht leicht, am Pult alles unter einen Hut zu bekommen. Der Rossini-Prosecco gelingt ihm gleichwohl im turbulenten ersten Teil, nach der Pause dann aber vollends.

In Pesaro ist die Reise nach Reims so etwas wie ein Durchlauferhitzer für den Sängernachwuchs – 13 Hauptrollen bieten genügend Gelegenheit, sich zu profilieren. In Zürich machen vor allem die Frauen auch vokal "bella figura", selbst wenn sie sich verrenken – wie Anna Goryachova als polnische Marchesa Melibea und Julie Fuchs als modeverrückte Gräfin, um nur zwei zu nennen. Am Ende gab es für die Regie jede Menge Pro und Kontra. (Joachim Lange aus Zürich, 17.12.2015)