No risk, no fun: Volkstheaterdirektorin Anna Badora will nicht aus Angst vor Misserfolgen das Stückeangebot nur im Mittelfeld der voraussichtlichen Publikumsakzeptanz positionieren.

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Wien – Die Volkstheaterdirektorin denkt, redet, handelt schnell. Seit September acht Produktionen am Volkstheater (VT), fünf im Volx/Margareten, zwei auf Bezirkstournee, ein Festival und Symposien: Nur keine Laschheit aufkommen lassen, Anna Badora mutet dem Publikum viel zu. Das tat sie vorher mit großem Erfolg schon am Grazer Schauspielhaus. Doch ihr Einstand in Wien fiel unerwartet rumpelig aus: Badora inszenierte die Bühnenfassung von Gerhard Fritschs Roman Fasching – und erntete, trotz Starbesetzung mit Adele Neuhauser und Stefanie Reinsperger, kontroversielle bis dezidiert negative Kritiken.

STANDARD: Könnten Sie die Resettaste drücken: Würden Sie wieder so anfangen?

Badora: Ich war aus Graz sehr verwöhnt. Alles, was ich dort inszenierte, wurde zu einem Renner – allerdings auch nicht von Anfang an. Nach wie vor glaube ich, dass es nicht schlecht war, mit Fasching zu beginnen, im vollen Bewusstsein, dass es riskant ist und ich vielleicht Schläge einstecken muss. Aber ich wollte von Anfang an Prozesse initiieren, Markierungspunkte setzen, Terrain abstecken.

STANDARD: Einer Ihrer Markierungspunkte ist Dušan David Pařízek, dessen drei Inszenierungen prägend für das Theater sind; ein anderer ist Yael Ronen, mit der Sie schon in Graz zusammengearbeitet haben und deren Lost and Found nun uraufgeführt wird.

Badora: Ich war gerade bei Yaels Proben und finde ihre Arbeitsweise einfach extrem spannend. Die Schauspieler haben die letzten Texte gestern, also drei Tage vor der Premiere, bekommen, sind zum Lernen nach Hause gelaufen, und heute Abend proben sie weiter.

STANDARD: Sind Sie nicht nervös, dass es sich nicht ausgehen könnte?

Badora: Nein. No risk, no fun. Yael hat eine großartige Beobachtungsgabe und Sensibilität. Sie erspürt Stimmungen, die Blauäugigkeiten der Gutmenschen, die Ängste der Wütenden, die Idealisierungen und die Skepsis. Sie horcht in sich, auf die Schauspieler, dann zieht sie sich zurück und schreibt. Für Lost and Found nahm sie reale Geschichten aus unserem Haus als Ausgangspunkt: etwa dass bei einer unserer Schauspielerinnen plötzlich der Cousin aus dem Irak – und mit ihm der irakische Teil ihrer Identität – auftauchte. Yael lässt all die kulturellen Verwirrungen dieser Familiengeschichte einfließen. Das ist nicht unbedingt spektakulär im Sinne von viel Action, aber es ist nah am Puls der Zeit, berührt den Nerv der Menschen. Yael interessiert sich für Menschen und wie sie in familiären Konstellationen agieren.

STANDARD: Was ist bei Ihrem rasanten Premierentempo in den ersten hundert Tagen gelungen, was nicht?

Badora: Wir haben teils extrem unterschiedliche Theaterformen ausprobiert. Vieles ist aufgegangen, und der Saal ist voll. Für anderes mussten wir schlechte Kritiken einstecken und wurden auch am Ticketschalter dafür abgestraft. Aber wie definiert man Erfolg? Nehmen wir als Beispiel den Marienthaler Dachs. Da haben wir uns nach der Premiere und Auswertung der Zuschauerresonanz mit dem Regieteam zusammengesetzt. Volker Lösch hat eine Kurzfassung erarbeitet, nur diese wird noch gezeigt. Wenn da nun 400 Leute reingehen, aus dem freien Verkauf ohne Abo, ist das buchhalterisch zwar keine gute Auslastung, aber die, die gekommen sind, jubeln. Zählt das als Erfolg oder Misserfolg? Wenn wir aus Angst vor Misserfolgen unser Stückeangebot nur im Mittelfeld der voraussichtlichen Publikumsakzeptanz positionieren, wie eng definieren wir dann unser Profil? Nein, wir wollen gerade am Anfang die gesamte Bandbreite nach oben und unten ausloten. Nur so haben wir die Chance, dem Zuschauer auch echte Entdeckungen und Überraschendes zu bieten wie etwa Camus' Das Missverständnis, interpretiert von Nikolaus Habjan.

STANDARD: Ein Kollege schrieb unlängst, er sei hier – und der Zuschauerraum leer gewesen.

Badora: Spielpläne werden strategisch über die gesamte Spielzeit verteilt erstellt. Auslastungszahlen sollte man sich daher erst am Ende der gesamten Spielzeit anschauen. Das sind ja auch Mittelwerte, ein voller Saal wiegt eben mal eine schwach besetzte Vorstellung auf. Man sollte aber auch nicht alles sklavisch glauben, nur weil es gedruckt daherkommt. Ihr Kollege schrieb ja auch, eine Vorstellung sei abgesagt worden, weil zu wenige Karten verkauft wurden. Diese Absetzung haben wir fünf Wochen vorher aus rein dispositionellen Gründen angeordnet. Es wird doch wohl niemand glauben, ich wüsste so lange im Voraus, wie der Verkauf sein wird.

STANDARD: Was kann, was soll ein "Volkstheater" im 21. Jahrhundert leisten?

Badora: Diese Frage ist für uns zentral. Ist es ein Theater der Völker, ein Vielvölkertheater? Auf alle Fälle muss ein Volkstheater eine gesellschaftspolitische Relevanz aufweisen. In Wien trifft man in Geschäften selten auf Verkäuferinnen mit Deutsch als Muttersprache. Aber im Theater sehen wir diese Menschen nur selten. Beim Gastspiel eines Belgrader Theaters im Rahmen unserer Serbischen Woche war das Haus allerdings voll – mit einem überwiegend Serbisch sprechenden Publikum, mit Migranten der ersten, zweiten, dritten Generation. Das muss uns öfter gelingen. Volkstheater bedeutet, Wien und Österreich zu spiegeln – von innen und außen.

STANDARD: Jetzt sind Sie innen. Hat sich Ihre Sicht auf Wien verändert?

Badora: Schon als Studentin habe ich Wien geliebt. Damals gab es noch den Eisernen Vorhang. Meine Mutter dachte, sie sieht mich nie wieder, als ich Polen verließ. Damals glaubte ich, jetzt von Wien aus kann ich die Welt erobern. Natürlich völlig verklärt, mein Blick auf den Westen damals. Mit Übernahme des Volkstheaters wurde ich von vielen vor der Schlangengrube Wien, dem glatten Parkett, der Hauptstadtpresse, den Betonstrukturen, der Veränderungsunwilligkeit gewarnt. Jemand in leitender Position sagte mir: 'Wenn was zu verändern wäre, hätten wir das längst gemacht. Da wir nichts gemacht haben, musste man auch nichts verändern.' Aber mittlerweile haben wir Veränderungsprozesse in Gang gesetzt, aus unausweichlicher finanzieller Überlebensnotwendigkeit, mühsam zwar, gegen manchen Widerstand, aber die ersten Schritte sind gemacht. Ich habe das Gefühl, wenn tiefgreifende Veränderungen im Volkstheater möglich sind, sind sie auch in Wien und Österreich möglich.

STANDARD: Sie bekommen rund zwölf Millionen Euro von Bund und Stadt Wien. Schon bei Amtsantritt haben Sie geklagt, dass es keine Valorisierung gebe.

Badora: Das ist für mich ein völlig neuer Zustand, dass knapp 300.000 Euro aus Lohnerhöhungen und Teuerung pro Jahr im besten Fall nur zu zwei Dritteln ausgeglichen werden.

STANDARD: Wie können Sie diese 300.000 Euro einsparen?

Badora: Gar nicht. Und auf der Einnahmenseite hat man einen geringen Spielraum. Aber wie vorhin gesagt, wir versuchen, den Betrieb von den Arbeitsstrukturen her zu flexibilisieren und zukunftsfähig zu machen.

STANDARD: Immerhin gibt es von der Gemeinde Wien zusätzlich zwölf Millionen Euro, aufgeteilt auf drei Jahre, für die bauliche Instandsetzung. Zieht der Bund mit?

Badora: Dafür sind wir der Stadt Wien natürlich sehr dankbar. Die Sanierung ist längst überfällig, löst aber nicht die Herausforderungen des laufenden Betriebs. Und ja, der Bund hat positive Zeichen gegeben. Weitere vier Millionen müssen wir an Eigenmitteln durch Spenden aufbringen.

STANDARD: Das ergibt 28 Millionen, die Renovierungsarbeiten würden laut einer Studie 35 Millionen Euro kosten. Woher kommt der Rest? Freundeskreis? Crowdfunding?

Badora: Beim Freundeskreis denken wir vordergründig nicht an Geld, sondern die Mitglieder sind Multiplikatoren in der Stadt. Und meine Mitarbeiter erarbeiten Konzepte für Crowdfunding. Aber da wir realistischerweise von 28 statt 35 Millionen Euro ausgehen, müssen wir eine Prioritätenliste für die Renovierung erstellen. Erhalten der Bausubstanz muss dabei natürlich im Vordergrund stehen.

STANDARD: Bleibt neben der Neustrukturierung, Umorganisierung und Umbauplanung noch Zeit für Ihre kreative Arbeit?

Badora: Die Diskussionen für die nächste Spielzeit gehen jetzt los, zusammen mit den Dramaturgen selektieren wir Stücke, sprechen mit Regisseuren. Das Organisatorische, Strukturelle, auch die reine Managementarbeit ist oft zermürbend, dafür werde ich durch die Beschäftigung mit Stoffen und Stücken entschädigt. Ich suche mir auch Gesprächspartner von außerhalb, um herauszufinden, was in der Luft liegt, schaue mir Inszenierungen von spannenden jungen Regisseuren in Europa an. Diese inhaltliche Arbeit ist mein Seelenelixier. Nun freue ich mich auf die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, denn da kann ich wieder lesen. So lade ich meine Batterien immer wieder auf. (Andrea Schurian, 18.12.2015)