Michael König (Mitte) als nicht mehr junger Anatol, der sich der geballten weiblichen Widerstandskraft schüchtern erwehrt: ein Coup von Peter Turrini (Fassung) und Herbert Föttinger (Regie).

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Wien – Etwa 125 Jahre sind vergangen seit Anatols Geburt. Entsprungen ist der berüchtigste Verführer der Moderne dem Kopf eines betont unschwärmerischen Wiener Arztes. Arthur Schnitzler schuf mit der Figur des Anatol ein wenig schmeichelhaftes Porträt der eigenen Promiskuität. Flüchtig sind die Freuden, denen sich der junge, sozial unabhängige Mann in den Armen unzähliger Damen hingibt.

Wie ein Falter gaukelt er von Mädchen zu Mädchen. "Süß" müssen sie sein, denn Anatol ist ein recht heikler Sammler hochwertiger Empfindungsstoffe. Manchmal merkt man ihm die Mühsal, geil sein zu müssen, auch an. So seit neuestem im Wiener Josefstadt-Theater. Hier haben Herbert Föttinger (Regie) und Peter Turrini Schnitzlers Szenenfolge endlich von den Füßen auf den Kopf gestellt. Der Geist weckt in dem Stück "Anatol" die Erotik. Zugleich wird sie ohne rechte Freude am Leben erhalten. Der Unterleib hält mit dem Wollen keineswegs Schritt.

Empfindungsschwankungen

Denn irgendwann hat sich der Geschmack auch des innigsten Kusses verflüchtigt. Nicht über das Fremdgehen erzählt Schnitzler (1862–1931). Seinem Ringstraßen-Don-Juan sind die Empfindungsschwankungen das viel größere Rätsel. Anatol ist als erotischer Buchführer eine glatte Null. Er kann sich an die vielen kleinen Tode furchtbar schlecht erinnern. Das weiß auch der würdige, schlohweiße Herr im Wiener Josefstadt-Theater.

Anatol (Michael König) ist rapide gealtert. Zusammen mit dem Stichwortgeber Max (Peter Matic) sitzt er als außer Dienst gestellter Salonlöwe am Tischchen und raucht. Das Mauerwerk ringsum droht zu verfallen. Ein Kristallluster, Ausweis alter Herrlichkeit, liegt wie eine Wunderblume in der Zimmerecke (Bühne: Walter Vogelweider). Ein blasser Vorhang trennt die beiden Lüstlinge von der Welt draußen.

Kleine Gedächtnisstützen

Es wird einige Zeit vergehen, bis Leben ins Palais kommt. Anatol übergibt eine Schachtel in Maxens Obhut. Der Karton enthält kleine Gedächtnisstützen. Sie haben die Funktion von Lesezeichen in Anatols erotischem Sündenregister. Sein Herz, meint der Filou, setze seinen "letzten Willen" auf. Den Rest – die Bloßstellung von Anatols Einfalt – übernimmt Matic mit der ganzen Autorität seiner wohlklingenden Erscheinung.

Turrini und Föttinger haben die Szenen erfrischend neu zusammengehängt. Auf "Anatols Größenwahn" folgt die "Episode", bald danach kommt die "Frage an das Schicksal". Es sind die Frauen, die wie Blendgranaten zünden. Fritzi (Martina Ebm) schickt ihrem durchaus umwerfenden Auftritt im Negligé einen Polster als Wurfgeschoss voraus.

Als nächstes Objekt der Begierde ist die ein wenig ordinäre Cora (Alma Hasun) anzuführen. Die lässt sich von Anatol hypnotisieren. Vor der Frage, ob sie ihm treu sei, schrickt er erwartungsgemäß zurück. Föttinger aber dreht den Spieß um. Die "süßen Mädeln" sprühen vor Säure. Jede Einzelne von ihnen ist dem erloschenen Anatol turmhoch überlegen.

Hass von Herzen

Tänzerin Annie (Katharina Straßer) schlürft im "Abschiedssouper" ihrem vergilbten Lover die Austern vom Tisch. Ihre Augen brennen, ihr Hass ist echt. Ilona (Sandra Cervik) hat Anatol an dessen "Hochzeitsmorgen" noch einmal das Junggesellenbett gewärmt. Frühmorgens schlummert der graue Panther auf dem Klavier, man riecht förmlich das abgestandene Odeur des Schwerenöters. Ilona aber trägt ihre Reizwäsche wie die Montur einer Schwerarbeiterin. Das Angebot, Champagner quellfrisch aus ihrem Schuh zu trinken, schlagen Anatol und sein Freund Max aus, aber so, wie man eine Rheumalinddecke freundlich zurückweist.

In der letzten Szene vor der Pause kocht Anatols Asyl noch einmal über. Das Rotlicht flackert, die Verflossenen hängen sich wie Hexen an den mürben Greis. Der begegnet einer einzigen heißgeliebten Feindin in Augenhöhe: Gabriele (Andrea Jonasson), die ihm in "Weihnachtseinkäufe" die Päckchen wie Gewichte aufbürdet und seine törichten Sticheleien mit Klugheit abwehrt. Schnee fällt auf die beiden. Es ist eine erschütternde, große Szene.

Damit ist dieser – nehmt alles nur in allem – wohlgelungene Abend bereits am Verlöschen. Anatol, das bornierte Monster, feiert Abschied. Im Karton findet sich noch ein Lippenstift. Der Mund des ewigen Verführers glänzt unverschämt. Die Entzauberung hat gewirkt. Freundlicher Beifall. (Ronald Pohl, 19.12.2015)