"The Fact of Matter" in Frankfurt: Choreograf und Künstler William Forsythe verlangt vom Besucher Kondition und Kraft.

Foto: MMK / Dominik Mentzos

Am Anfang ist das Publikum. Wer derzeit die erste Ebene im von Hans Hollein gebauten Frankfurter Museum Moderner Kunst (MMK) betritt, wird von einer Kamera erfasst. Was dann vom eigenen Körper auf einer großen Videowand in der Eingangshalle zu sehen ist, hat ein Computerprogramm zuvor verzögert, verdreht und verzogen. "City of Abstracts" nennt der Choreograf William Forsythe diesen Besuchsauftakt der brillanten, ihm gewidmeten und von ihm mitgestalteten Ausstellung "The Fact of Matter", die das gesamte Museum füllt.

Forsythe (65) ist in seinem Metier eine künstlerische Singularität. Geboren in New York, kam er Anfang der 1970er-Jahre zu John Cranko an das damals weltweit führende Stuttgarter Ballett, leitete ab 1984 die Ballettcompagnie der Städtischen Bühnen Frankfurt und von 2005 an zehn Jahre lang die in der Stadt am Main und in Dresden residierende Forsythe Company.

In Österreich waren seine Arbeiten bei Impulstanz, den Festwochen und im Tanzquartier Wien zu Gast. Das Wiener Staatsballett hat Lizenzstücke im Repertoire, darunter "The Second Detail" (1991) und "The Vertiginous Thrill of Exactitude" (1996). Und das Festspielhaus Sankt Pölten zeigte in der Vorsaison einen "William-Forsythe-Ballettabend" mit dem Dresdener Semperoper-Ballett sowie ein weiteres Programm mit seinen Werken, in denen Sylvie Guillem und das Ballet de Lyon tanzten.

Innovation wider Skepsis

Was Forsythe im traditionell innovationsskeptischen Ballett aufführt, ist in Methode, Inhalt und Form so speziell, dass alle, die sich davon etwas abschauten, irgendwo in den Weiten seiner Ästhetik steckenblieben. Bereits 1989 begann der Vielseitige an "choreographic objects" zu arbeiten, die er nur zögernd an die Öffentlichkeit brachte: darunter etwa 1997 "White Bouncy Castle", eine nicht ungefährliche Hüpfburg, die auch im Tanzquartier Wien zu erleben war. Oder eben "City of Abstracts" als digitale Wand, die bereits 2003 in Paris aufgebaut wurde.

Das MMK zeigt – unter kuratorischer Leitung von Mario Kramer – den Künstler William Forsythe ohne Rückblick auf dessen choreografisches Werk. Die titelgebende Arbeit "The Fact of Matter" war 2009 in Venedig und danach unter anderem in der Ausstellung "Move" im Münchener Haus der Kunst zu sehen: ein Korridor aus an Bändern befestigten Gymnastikringen, durch den sich durchhangeln kann, wer die nötige Kraft und Kondition mitbringt.

Härtetest und Lockungen

Wer diesen Härtetest bestanden oder umschifft hat, wird in "A Volume, within which it is not Possible for Certain Classes of Action to Arise" (2015) in einen nicht ganz hüfthohen dunklen Spalt zwischen Boden und einem darüber schwebenden großen Kubus gelockt. Ursprünglich sollte die Kaverne laut Forsythe nur die "Höhe eines Sarges" haben. Diese Herausforderung wollte er dem Publikum dann doch ersparen – nicht aber die Auseinandersetzung mit einem ganzen Netzwerk aus Bezügen zwischen den präsentierten Werken.

Das Abenteuer beim Besuch ist nicht nur, dass man sich körperlich auf die Arbeiten des Choreografen einlassen muss, sondern auch dass diese geschickt mit Bildern, Installationen, Videos und Skulpturen anderer Künstler aus der Sammlung des MMK vermischt sind, und zwar mit solchen, die Forsythe selbst und anderen, die Kurator Kramer in Bezug dazu ausgewählt hat.

Entgrenzte Auffassung

Noch einmal anders erfahren lässt sich die Kaverne unter dem Kubus, wenn man vorher Andreas Slominskis unheimliche "Fanganlage für Wildschweine" betreten hat. Oder einen mit Plastiklamellen abgedichteten Raum, den nichts anderes füllt als das Summen dreier Luftbefeuchter. Das ist "Aire" von Teresa Margolles. Die Mexikanerin verwendet für die Geräte eigentlich Leichenwaschwasser aus der Pathologie. Im MMK reicht normales. In einer weiteren Installation der auf die Gewaltexzesse in ihrem Land reagierenden Künstlerin ist ein Video zu sehen, in dem das Abspülen eines Toten gezeigt wird.

Forsythes entgrenzte Auffassung von Choreografie wird auch in der Videoarbeit "Incidents" von Igor und Svetlana Kopystiansky deutlich, in der allerlei Papier, Plastik und sonstiger Abfall im Wind tanzt. Zwei Jahre nach "Incidents" (1996/97) machte ein tanzendes Plastiksackerl in dem Film "American Beauty" von Sam Mendes die Herzen des Kinopublikums butterweich. Für William Forsythe funktioniert Tanz sehr gut auch mit Objekten. Zum Beispiel mit 60 an langen Schnüren schwingenden Lotgewichten, die von kleinen laut knallenden Maschinen in Bewegung gebracht werden. Die eindrucksvollen "Black Flags", die Forsythe vor einem Jahr im Dresdener Lipsius-Bau von Robotern schwingen ließ, fehlen leider im MMK.

Der Nebel tanzt

Dafür tanzt dort Nebel mit Licht: ein nordlichthafter Ring geistert in einer mit Theaterrauch gefüllten niedrigen Kiste, die einen abgedunkelten Raum fast zur Gänze ausfüllt. Dieses "Additive Inverse" korrespondiert in der Ausstellung mit James Turrells ebenso meditativer Dunkelrauminstallation "Twilight Arch". Ganz unzarten Krafteinsatz erfordert dann das Öffnen einer schweren, widerstrebenden Stahltür ("Aufwand"), durch die man in einen Raum gelangt, der nur einen an eine Wand geschriebenen Satz enthält: die nüchterne Aufforderung, man möge einen Meter Abstand von der Wand und anderen Besuchern halten ("Abstand").

Wer glaubt, eine ruhige Hand zu besitzen, kann das bei "Towards the Diagnostic Gaze" testen: Muss man tot sein, um einen Staubwedel absolut ruhig halten zu können? Forsythe choreografiert sein Publikum durch beinahe 100 körperliche Erfahrungen und überraschende Begegnungen. Auch mit Marcel Duchamp, Ai Weiwei und eben sich selbst. (Helmut Ploebst aus Frankfurt, 22.12.2015)