In Santiago de Compostela konnten wir alles zu Fuß erledigen. Erst als wir das Umland erkunden und ans Meer fahren wollten, stellte sich der Transport als problematisch heraus.

Foto: Klaus Andreas Amann

Die Wahl war keine Qual: entweder in der erst vor kurzem gekauften Wohnung in Wien zu bleiben, pragmatisiert zu werden und irgendwann als grantiger Oberstudienrat zu enden oder mit zwei kleinen Töchtern ins unbekannte Galicien an der spanischen Nordwestküste zu zügeln, um herauszufinden, ob das dortige Lektorengehalt an der Universidad de Santiago de Compostela für eine vierköpfige Familie reichen würde. Zügeln im wahrsten Sinn des Wortes – wir fuhren mit dem Zug via Barcelona nach A Coruna und Santiago. Fünf Gepäckstücke mit Windeln, Kinderbüchern und Kleidern konnten wir logistisch mitschleppen, zehn Chiquita-Schachteln waren schon vor uns auf die große Reise gegangen.

Meine Frau war guter Dinge: endlich in einem spanischsprachigen Land leben, ein wärmeres Klima und die Aussicht, Englisch unterrichten zu können. Ich war nicht böse, einer frühzeitigen Verbeamtung entgangen zu sein, Deutsch als Fremdsprache (DaF) zu unterrichten und hoffentlich genug Zeit zu haben, um mein Projekt als Lektor umsetzen zu können. Aber erst einmal wollten wir uns für ein Jahr einrichten, da wir keine Ahnung von Spanien hatten außer der Sprache, die wir beide fließend sprachen, wenn auch mit südamerikanischem Akzent.

Rua do Franco, 1990

Vor 25 Jahren konnte man bestenfalls per Telefon ein Zimmer in einer Pension in Spanien reservieren in der Hoffnung, dass es groß genug sein würde für vier Personen und es ein Bettchen für ein Kleinkind geben würde. Den Rest musste man improvisieren. Und das Telefonat musste kurz sein, weil es sehr teuer war, ins Ausland zu telefonieren. Und genau das lernten wir sehr schnell in Spanien: zu improvisieren. Weil alles meistens anders kommt, als wir's eh nicht geplant hatten.

In Wien hatten wir unsere älteste Tochter während der Schwangerschaft schon für den städtischen Kindergarten angemeldet, um denn vier Jahre später auch einen Platz zu bekommen. In Santiago liefen wir eines Nachmittags – zwei Wochen nach der Ankunft und den ersten Erkundigungen – einer munteren Kindergartentruppe über den Weg, und meine Frau fragte die Tanten, wie lange die Anmeldefrist für den Kindergarten hier sei. Die lachten und sagten: Bringt die beiden doch heute Nachmittag vorbei, der Kindergarten ist gleich hier um die Ecke, und dann besprechen wir alles. Der Kindi kostete 40 Euro im Monat mit einer Jause, und am nächsten Tag bekamen die noch leicht überrumpelten nenas (Mädchen) ihren mandilón (Schürzchen), und wir hatten jeden Werktag sechs Stunden Zeit, um Wohnung, Nahrung und Beschäftigung zu suchen. Was den Wienern die Hunde sind, sind den Spaniern die Kinder! In wenigen Wochen lernten die Mädels spanisches Spanisch und ein bisschen Galicisch (eine Variante des Portugiesischen) und freuten sich jeden Tag auf den Kindergarten. Im Unterschied zur Wienerstadt wurden sie hier auch um zehn Uhr so fröhlich und herzlich begrüßt wie um halb acht.

Auch in der Volksschule waren beide Töchter sehr zufrieden, auch wenn sie die Ganztagsschule manchmal etwas lang fanden. Wir lieferten sie um neun Uhr dort ab und holten sie um halb fünf wieder ab. Ihre Lehrerinnen waren sehr traditionell, aber sehr engagiert, und es gab Zeiten, da spielten beide nur Schule, und keine wollte die Schülerin sein.

Damals hatte Spanien noch ein effizienteres Schulsystem als heute: acht Jahre Gesamtschule, danach entweder Arbeiten oder Berufsschule oder Gymnasium mit Matura. Heute zwingt man die Jugend, nach sechs Jahren Volksschule weitere vier Jahre in die Educación Secundaria Obligatoria (ESO) zu gehen, wo mancher Kandidat unmotiviert nur auf seinen 16. Geburtstag wartet, um sich dann zu verabschieden.

Sin embargo, über die Kinder lernten wir schnell andere Familien kennen, und gegenseitige Besuche und Einladungen waren häufig. In der schönen Wienerstadt kannten wir Nord- und Südamerikaner, Burgenländer und Vorarlberger, Rumänen und Tschechen, aber in zehn Jahren an der Donau lernten wir keine Wiener kennen.

Alles ganz anders hier

Obwohl wir gerade einmal einen Artikel aus einer "El Pais"-Beilage über das grüne Spanien gelesen hatten, wussten wir fast nichts über diese Region. Regenhauptstadt Europas, heißt es über Santiago. Als wir ankamen, hatte es 34 Grad, Ende September 1990. Wenn du einen Galicier auf einer Treppe antriffst, weißt du nicht, ob er nach oben oder nach unten geht, heißt es über die Verschlossenheit der Einheimischen. Selten haben wir herzlichere und freundlichere Menschen kennengelernt als die galegos, wie sie in ihrem Idiom heißen. Noch heute, nach 25 Jahren, sind einige unserer besten Freunde aus dieser Zeit und aus dieser Region. Sicher, Galicier sind zurückhaltender als Andalusier, aber verschlossen? Auch Flamenco sucht man vergebens in Galicien, das Nationalinstrument ist der Dudelsack.

Wohnst du schon oder suchst du noch?

Lange konnten wir uns nicht mit der Wohnungssuche aufhalten, die Wiener Wohnung war schon an Studenten vermietet, die Auszahlung des ersten Gehalts ungewiss und die Ersparnisse knapp. Am zehnten Tag in der Pension in der Rua do Franco – benannt nach den Franken und nicht nach dem Möchtegern-Hitler aus Ferrol – fanden wir im Studentenviertel Ensanche um die Plaza Roja eine erschwingliche Wohnung im fünften Stock in der Calle Nueva. Im Altstadtpendant Rua Nova hätten wir keine Wohnung bekommen, dazu muss man gute Kontakte oder Glück haben.

Vieles war jetzt wieder anders, und das ist ja das Schöne an der Fremde, dass einem alles fremd vorkommt, dazu noch in Spanien! Die Zimmer waren viel kleiner als im Wiener Altbau, das Gas für Herd und Dusche kam aus Flaschen, die täglich lauthals ausgerufen wurden, der Müll wurde nicht getrennt und jede Nacht Punkt 23 Uhr eingesammelt. Die Bäckereien hatten sonn- und feiertags geöffnet: 1990 eine kleine Sensation, von Wien aus gesehen. Nicht nur das Brot war sehr lecker, das galicische Essen überhaupt war sehr attraktiv: Meeresfrüchte, Fisch, Kartoffeln in allen Varianten, Obst und Gemüse ohne Ende. Und alles auf dem Markt, beim Obsthändler oder in den vielen kleinen Läden für ein paar pesetas. Nur die Wurst war uns wurst, weil viel zu fett, überwürzt oder farblich unattraktiv. Vielleicht sind deshalb heute zwei in der Familie Vegetarier?

Alles zu Fuß

Santiago ist gerade groß genug, dass man lange braucht, um die Stadt gut kennenzulernen, und nicht zu groß, um dafür ein Auto oder den Bus zu benötigen. Vor allem die Altstadt bot so ziemlich alles für jemanden, der viel Zeit hat. Cafés, Bars, Restaurants, Plazas, Parks, Geschäfte, Buchhandlungen, ein Kino, Uni-Gebäude und Märkte. Aus Mangel an Geld für eventuell auch überzogene Renovierungen sieht es im casco histórico (Altstadtkern) wie im Hochmittelalter aus. Alles ist aus Stein, die Gassen sind krumm oder rund oder zu schmal, um zu zweit durchzukommen. Zur Uni, damals noch an der Plaza Mazarelos gelegen, waren es zehn Minuten, zum nächsten Kinderspielplatz zweimal umfallen und in die Oberstadt rund um die Plaza Cervantes eine Viertelstunde. Erst als wir das Umland erkunden und ans Meer fahren wollten, stellte sich der Transport als problematisch heraus: Die Fahrt in ein kleines Fischerdorf an der berüchtigten costa da morte dauerte drei Stunden – in zwei Bussen und einem Taxi für 70 Kilometer. Dafür mussten wir nie etwas reservieren, selbst im Bus erhielten wir mit zwei Kindern immer Sitzplätze.

Fiesta – Siesta

Auch wenn es ein grässliches Klischee ist: Wir hatten berufstätig noch nie und nie wieder so viel Freizeit wie in Spanien. Mein Pensum an der Uni waren acht Übungsstunden pro Woche, ich wurde gefragt, an welchen Wochentagen ich unterrichten wollte und ob lieber vormittags oder nachmittags. Ich unterrichtete Dienstag bis Donnerstag, und da wir Lektoren keine administrativen Verpflichtungen hatten, waren auch die Monate Juli, August und September sowie Februar weitgehend unterrichtsfrei, dazu kamen noch zwei Wochen Weihnachtsferien und zwei Wochen Osterferien. Meine Frau gab Privatunterricht, und zusammen schrieben wir ein Spanischlehrwerk, das von einem großen deutschen Schulbuchverlag mit offenen Armen aufgenommen wurde und aus dem im Lauf der nächsten vier Jahre das vielleicht meistverwendete Spanischbuch in den deutschsprachigen Ländern wurde. Überflüssig zu erwähnen, dass wir das Maximum von fünf Jahren nutzten und eigentlich am liebsten in Spanien geblieben wären, wo im Durchschnitt alle 20 Minuten irgendwo im Land ein Fest stattfand – damals zumindest. (Klaus Andreas Amann, 14.1.2016)