Innsbruck – Ist die Liebe ein Scherz der Kultur? Die harte Tour geht – jedenfalls auf napoleonisch – so: "Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt." Bei Shakespeares Komödie Much Ado About Nothing (1599) sagt jemand verschwörerisch: "Speak low, if you speak love." Und in One Touch of Venus, einem Musical von Kurt Weill und Ogden Nash, wird 343 Jahre später aus tiefster Brust gesungen: "Speak low when you speak love." Was bedeutet der historische Wechsel von "falls" zu "sobald"? Der belgische Starchoreograf Wim Vandekeybus hat sich im Titel seines 2015 entstandenen, herzzertrümmernden Tanzstücks zur Liebe, das er zum Abschluss des Osterfestivals Tirol in der Innsbrucker Dogana zeigte, an Shakespeare gehalten.

In dem Stück "Speak low if you speak love" thematisiert Wim Vandekeybus den heutigen Umgang mit dem Phänomen Liebe.
Foto: Osterfestival

Auf Weills Song hat er nicht verzichtet. In seinem getanzten Speak low if you speak love, das kommenden Sommer auch bei Impulstanz in Wien gastiert, wird nicht mit der Liebe selbst abgerechnet, aber sehr wohl damit, wie man sie heute behandelt: Links auf der Bühne sind provisorisch wirkende Vorhänge zu sehen, rechts gibt's einen Dschungel aus Pflanzen, und hinter dem Backdrop hält sich die Musik auf.

Seil ins Publikum

Trotzdem tritt zuerst der Musiker auf (Mauro Pawlowski), mit stoffverhangenem Kopf und einem Seil, das er ins Publikum wirft. Verstanden: Was folgt, geht uns alle an. Ein Bruder der hier von der Sängerin Tutu Puoane verkörperten Liebe ist der Tod. Daher tritt Pawlowski samt E-Klampfe auch als Freund Hein auf. Zwischen die Liebe und den Tod wird Geld ausgeschüttet. In kleiner Münze.

Was der Choreograf hier in düsterem Raum aufplatzen lässt, ist zur Verzückung der Zuschauer ziemlich ambivalent: So leicht wie heute hatte es die Liebe schon lange nicht mehr, denn sie ist ganz und gar zur sozialen Währung geworden. Als Gefühl hat sie die Form eines hochprofitablen Produkts angenommen und geht so völlig in unserer Marktgesellschaft auf. Besitz und Besessenheit, Gier und Begehren fließen ineinander zum Begriff einer Liebe, die immer beim konsumierenden Individuum endet: So dient eines dem anderen als automobiler Fleischvibrator.

Liebe zum Detail

Mit viel Liebe zum Detail arbeitet Wim Vandekeybus die Rolle der Musik in dieser Hormonalbörse heraus. Im Auf und Nieder der leibesüblichen Attraktivitätskurse ist echt geiler Sound Schmiermittel, Grammelschmalz und Bratlfett zugleich. Pawlowski rührt dieses gute Schmer genüsslich um und übersetzt es in ein diskursives Begleiten, Antreiben oder Unterbrechen der Darsteller auf der Bühne.

Deren Körper sind jung, fesch plus superfit und immer brunftig, außer sie stellen sich tot. So zeigt sich eine ernüchternde Diagnose: Die zeitgenössische Konstruktion von Liebe ist eine Allesdurchdringung. Sobald sie total ausgereizt wird, braucht sie keine Subtilität und keine Nuancen, weder ein Außen noch Tiefe. Nur die volle Breite. Die Folge solch flächiger Verteilung kennen wir als paranoide Correctness, wie sie den angloamerikanischen Raum hysterisiert. Diese Perversion erspart Vandekeybus seinem Publikum.

Seit dreißig Jahren führt der einflussreiche Künstler seine Brüsseler Company Ultima Vez durch einen reißenden, oft sogar mitreißenden Strom aus Körpereinsatz und dynamischen, nicht selten abgründigen Atmosphären. Bei Speak low if you speak love versucht er sich mit Erfolg an einer gewebeartigen, dem Thema entsprechend planen Dramaturgie, in der Spannungsmomente miteinander vernetzt sind. Am Schluss franst diese Struktur dankenswerterweise aus. Da schlüpft ein mögliches Ende aus dem anderen, sodass die Grablegung der saturierten Liebesnormen im Westen des 21. Jahrhunderts zuletzt aufs Passendste zu nerven beginnt. (Helmut Ploebst, 29.3.2016)