Vor allem Buben haben Schwierigkeiten beim Lesen.

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Wien – Fast zwei Drittel der Risikogruppe beim Lesen sind Buben. Das zeigen die Ergebnissen der Bildungsstandards am Ende der vierten Klasse Volksschule. Buben waren in allen abgeprüften Kompetenzen im Fach Deutsch schwächer als ihre Kolleginnen.

Laut der Bildungspsychologin Christiane Spiel von der Universität Wien ergibt sich der Unterschied durch die Stereotype, die Schülern von Eltern und Lehrern nach wie vor vermittelt werden: "Mädchen sind fleißig, und Buben sind faul und lesen nicht gerne." Bei Buben führe das dazu, dass sie "furchtbar cool" seien und nicht lernen, sagt Spiel zum STANDARD. Da diese Stereotype tief in der Gesellschaft verankert seien, sei es besonders schwierig gegenzusteuern. "Man muss man auf allen Ebenen dagegenarbeiten." Etwa in der Lehrerausbildung.

Auch die Eltern müssten dazu sensibilisiert werden Geschlechtsstereotype zu vermeiden zum Beispiel beim Spielzeugkauf oder bei der Berufswahl der Kinder. Denn Stereotype bedeuten immer eine Einschränkung der Möglichkeiten. "Und es braucht Rollenbilder." Es reiche aber nicht aus, wenn etwa mehr Männer an der Volksschule als Lehrer unterrichten. "Wenn diese Männer diese Stereotype weiter vermitteln, bringt es nichts."

Andere Schulfinanzierung

Wesentlich größer als der Abstand zwischen Buben und Mädchen ist allerdings jener zwischen Volksschulkindern, deren Eltern maximal einen Pflichtschulabschluss haben, und jenen aus akademischen Haushalten. Beim Leseverständnis liegen drei Jahre Lernzeit zwischen diesen Gruppen. Die Lösung liegt für Spiel unter anderem in einer anderen Art der Schulfinanzierung.

Wie viele andere Bildungsexperten und Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) schlägt Spiel einen Sozialindex vor. Demnach würden Schulen etwa mehr Geld für Schüler bekommen, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss haben. Wie genau ein solches System funktionieren könnte, hat Johann Bacher von der Universität Linz bereits erarbeitet.

Unterschiedliche Situationen

"In den Schulen gibt es höchst unterschiedliche Bedingugen", sagt Spiel. So werde die Klassenschülerhöchstzahl in Wien viel öfter ausgeschöpft als auf dem Land. Weitere Risikofaktoren, die in manchen Schulen viel öfter vorkommen als anderswo: sozioökonomisch schwache oder schlecht ausgebildete Eltern und Migrationshintergrund. "Dazu kommt, dass Klassen, die viele Kinder aus diesen Risikogruppen besuchen, wiederum ein Risikofaktor sind." Wenn solche Schulen mehr Geld bekämen, könnte man diese Faktoren ausgleichen, sagt Spiel. "Auch im Sinne der Bildungsgerechtigkeit."

Zwei Lehrer pro Klasse gewünscht

Pflichtschulgewerkschafter Paul Kimberger findet diesen Vorschlag zwar begrüßenswert, kann aber nicht so recht an dessen Umsetzung glauben. "Die Ministerin hat schon viel angekündigt, in den Klassen angekommen ist nichts davon." Er fordert vor allem zusätzliches Unterstützungspersonal wie Schulpsychologen und Sozialarbeiter. Zudem müssten in der ersten und zweiten Klasse Volksschule zwei Lehrer pro Klasse stehen. "So kann man jedes Kind je nach Bedürfnis fördern. Kinder mit Defiziten und solche, die eine Hochbegabung haben." Überrascht von den Ergebnissen ist Kimberger jedenfalls nicht, er wisse über die Situation in den Volksschulen Bescheid.

Intensive Begleitung

Genauso wenig neu sind die Daten für Stefan Hopmann, Bildungsforscher an der Universität Wien. Im Gespräch mit der Austria Presse Agentur sagt er: "Wir haben seit 20 Jahren ähnliche Ergebnisse." Wenn Heinisch-Hosek – wie bei der Präsentation am Donnerstag – diese als Beleg dafür sehe, wie gut das österreichische Schulsystem funktioniere, sei das "blanker Zynismus". Anstatt über das Schulsystem zu diskutieren, müsse man den Wissensstand jedes einzelnen Schülers kennen und Risikoschülern intensivere Begleitung und Förderung auch in kleineren Gruppen geben.

Für Bildungspflicht

Auch Bildungspsychologin Spiel spricht sich dafür aus, dass Pädagogen in Weiterbildungen gezielt lernen, wie Schwächen von Schülern erkannt werden können. Nur wenn man wisse, "wo steht das Kind und was braucht es", könne man richtig fördern. Damit auch Kinder aus Risikogruppen der Gesellschaft nicht verlorengehen, schlägt sie statt der Schulpflicht eine Bildungspflicht vor. Möglichst alle Schüler sollten ein Bildungsminimum erreichen – unabhängig von ihrem Alter. (Lisa Kogelnik, 1.4.2016)