"Ist doch besser, als eine Therapie zu machen." Dörte Lyssewski zieht aus Theaterbesuchen auch einen gesundheitlichen Nutzen. Ab Freitag ist sie im Akademietheater in "Die Wiedervereinigung der beiden Koreas" zu sehen. 2015 legte sie ihr Prosadebüt "Vulkan oder Die heilige Irene" vor.

Foto: Georg Soulek

Wien – Burgschauspielerin Dörte Lyssewski spielt ab Freitag eine von zahllosen Figuren in der szenischen Skizzensammlung Die Wiedervereinigung der beiden Koreas des Franzosen Joël Pommerat (Akademietheater, Regie: Peter Wittenberg). Seit 2009 an der Burg, debütierte Lyssewski 2015 auch als Prosaartistin. In dem Erzählband Vulkan oder Die heilige Irene (Matthes & Seitz) irren aus der Zeit gefallene Frauenfiguren durch eine spröde Welt, an der sich dennoch in allen Ecken und Enden Zeichen der Verzauberung finden lassen. Ein fantastisches Debüt, dessen gehobene Sprache von fern an Botho Strauß erinnert. Kunststück: Lyssewski wirkte in zahlreichen Strauß-Uraufführungen mit. Ein Gespräch über Kunst und Wirklichkeit.

STANDARD: Wie ist Ihr Erzählband "Vulkan oder Die Heilige Irene" entstanden? Wie kommt es überhaupt, dass eine Burgschauspielerin so viel erstklassige Prosa in ihrer Schreibtischschublade zusammensammelt?

Dörte Lyssewski: Ich beschäftige mich von Berufs wegen mit Wahrnehmung, so wie jeder andere Mensch auch, nur halt etwas genauer. Man schreibt sich dabei eben das eine oder andere auf – manche tun das, andere nicht. Ich mache mir manchmal Gedanken. Habe ich welche, schreibe ich sie auf. Der Zufall oder die selektive Wahrnehmung braucht vielleicht kein Sujet oder Movens; aber in dem Augenblick, in dem die Wahrnehmung geschärft ist, ergibt sich eine Art von Klarheit. Kurz gesagt: Man nimmt Dinge wahr, die man sonst nicht wahrgenommen hätte.

STANDARD: Sie sind Schauspielerin und erzeugen eine Art von Durchlässigkeit gegenüber der Welt?

Lyssewski: Ja. Es fanden sich mit der Zeit dann Fäden und Motive, Themen, die immer wiederkehren. Die ersten drei Erzählungen in Irene haben alle miteinander zu tun, bilden eine Art Trilogie. Die vierte fällt wegen ihres Standpunktes heraus ...

STANDARD: Ihr Buch fällt aus den gängigen Veröffentlichungszyklen komplett heraus. Woher stammt Ihr Faible für eine derart preziöse, wahrnehmungsgesättigte Prosa? Sie schildern Frauenfiguren vor südeuropäischer Kulisse. Diese sind bestrebt, sich zu verwandeln, um ihr Recht auf eine mythische Lebensweise zu behaupten. Doch sie prallen auf eine entzauberte, ausgenüchterte Welt. Dieser Zusammenstoß endet meist tragisch.

Lyssewski: Die Welt von Ovid zum Beispiel besitzt bis heute ihre Gültigkeit. Die Grundpfeiler, die unser menschliches Zusammenleben bestimmen, bestehen ja fort. Sie formen sich in Einzelschicksalen aus. Als Beispiel kann meine Figur der Byblis dienen. Jede Art Lebensgeschichte, von jedweder Frau auf der Welt, ist nur eine Spiegelung, die zeigt, wie es hätte weitergehen können, wenn ... Weil Byblis weiß, dass jeder ein Wiedergänger des anderen ist oder sein kann, gibt es für sie nur die Konsequenz des Aufhörens.

STANDARD: Die Fabel: Byblis kann ihre inzestuöse Liebe zu ihrem Bruder nicht leben, aber auch nicht verwinden. Sie irrt zunehmend haltlos durch die Welt von heute und verwandelt sich schließlich in eine Quelle.

Lyssewski: Für sie gibt es nur die Konsequenz des Aufhörens. Anders als in unserer heutigen Gesellschaft, in der alles konsumierbar sein soll, ist der Kompromiss für sie kein erstrebenswertes Ziel. Die Konsequenz des Denkens, Handelns und Sagens – Worte sind ja Taten – kann nur dazu führen, dass man einen anderen Blick auf die Welt wirft, und sei es denjenigen eines alten, sterbenden Hundes. Wobei ich mich in der Erzählung Byblis natürlich der Metamorphosen des Ovid bedient habe.

STANDARD: Die trotzige Behauptung des Andersseins lässt sich auch nicht wegtherapieren? Man bürdet sich als Autorin die Last auf, fremd in der Welt zu sein?

Lyssewski: Beschreibung oder Handeln wäre ja sonst kaum mehr möglich. Es bleibt doch sowieso so vieles fremdbestimmt. Das Pure oder "Wahre" gibt es ja nicht. Oft bedarf es einer Erschütterung, eines Schicksalsschlages, um ein anderes Segment von Welt wahrzunehmen. Wenn ich mich in ihm bewege und es ernst nehme, so zeitigt mein Handeln diese und jene Folgen. Das ist die Unentrinnbarkeit. Und diese nennt man Schicksal.

STANDARD: Sie meinen: das Menschsein ernst nehmen?

Lyssewski: Was das bedeutet, ist in letzter Konsequenz vielleicht nicht schön. Es ist unter Umständen vielleicht sogar tra- gisch.

STANDARD: Wo erlernt man diesen Blick auf die Welt? Indem man, so wie Sie, blutjung als Schauspielerin debütiert?

Lyssewski: Die Affinität dafür hat man womöglich schon als Kind. Das kann man nicht erlernen. Der detaillierte Blick des Kindes, das im Gras liegt und eine Ameise anschaut, ist eine Art der Wahrnehmung von Welt, die wir uns erst wieder künstlich aneignen müssen. Das Kind lebt im Augenblick. Wir wollen immer "schneller" als dieser Augenblick sein.

STANDARD: Gewisse Bildungsinhalte werden heute kaum noch vermittelt. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen als Schauspielerin? Ist der Resonanzraum kleiner geworden? Darf man weniger voraussetzen?

Lyssewski: Ich glaube noch immer an die Zumutung. Manche Theater heute sind zu feig. Sie meinen, dass für den Menschen von heute alles "schneller" gehen muss et cetera. Das glaube ich nicht. Im Burgtheater sitzen jeden Abend 1200 Menschen, und das sind alles "Experten". Denen ist nichts Menschliches fremd, denen kann man jede Geschichte zumuten – von Menschen geschrieben, durch Menschen inszeniert, von Menschen für Menschen gespielt. Klingt vielleicht dämlich. Ist aber so. Kein Expertentum. Man darf die Leute nur nicht unterfordern. Passiert das, wollen sie irgendwann auch nichts mehr anderes.

STANDARD: Keine Erleichterungen?

Lyssewski: Dafür gibt es ja das Fernsehen. Im Theater sitzen 800 Menschen zusammen, und es wird live etwas vor ihnen verhandelt. Und sie gehen bestenfalls "verändert" aus dem Theater wieder hinaus. Ist doch besser, als eine Therapie zu machen.

STANDARD: Eine Zumutung für die Künstler am Burgtheater war wohl auch die Debatte rund um die Abberufung von Matthias Hartmann als Direktor.

Lyssewski: Es war ungustiös und äußerst unangenehm. Die Realität heute ist eine Konsequenz daraus. Es gibt weniger Geld; wir wurden eine Zeitlang als Schauspieler unmöglich angesehen, als hätten wir irgendetwas mitverursacht. Rundum unangenehm.

STANDARD: Aber es gab im Ensemble ein Zusammenrücken?

Lyssewski: Ich will nicht sagen, dass es keine Narben gibt. Es gibt ganz eindeutige Spuren und Konsequenzen, auch wenn wir das Publikum nicht verloren haben. Es ist jetzt erst einmal ruhig. Es sollte aber – recht betrachtet – auch nicht zu ruhig bleiben.

STANDARD: Die "Normalität" ist auch nichts Rechtes am Theater? Ist etwas konsolidiert, gilt es auch schon wieder als fade.

Lyssewski: Es gab viele Konstellationen, die jetzt anders sind. Das Ensemble hat sich massiv verändert. Kurz gesagt: Ja, die Folgen der Katastrophe spürt man. Schauen wir mal!

STANDARD: Das ist sehr wienerisch.

STANDARD: (lacht): Ja, der Spruch passt immer. (Ronald Pohl, 27.4.2016)