Wien – Die Zeit verrinnt so langsam, dass sie tropft. Oder ist es Tran? Oder Spermazet, was da vom Schnürboden immer wieder einmal herunterfällt? Denn Herman Melvilles Moby Dick (1851) ist auch Existenzphilosophie, Lebensparabel, Gotteslob und Gesellschaftsklage – der Roman-Klassiker ist ebenso Biologieunterricht und Walfangpraxisbeschreibung.

Acht Männer, ganz in schwarzen Hemden und Hosen (Ausstattung: Matthias Koch), stehen zu dessen Dramatisierung auf der ansonsten fast leergeschafften Bühne des Burgtheaters und monologisieren abwechselnd voreinander hin. Eine Ode auf das Weiß schlägt einem in dessen Anklage um. Der Ozean sei "voll neu belebender Abenteuer", giert ein anderer, gepeinigt vom Lande. Dem Dritten ist das tiefe Blau eine Ausflucht vor den Menschen, bevor er drauf und dran ist, ihnen "die Hüte von den Köpfen zu schlagen".

Noch herrscht auf der hohen See keine Hast. Dieweil hat man Zeit für weitere Gedanken. Eng verwandt seien Tiefsee und Tiefsinn, hört man. Von Irrsinn ist aber auch viel die Rede und von Rache. Und plötzlich gehen Sturzbäche los. Sie enden nimmermehr.

Wasser, Blut und Sehnsucht

Das Thalia Theater Hamburg ist zu Besuch in Wien. Und die Mannschaft von der Nordsee hat Wasser im Gepäck: gespritzt, gespuckt, regnend, springend, tosend, rauschend – auf alle erdenklichen Weisen macht sie uns damit vertraut. Zudem mit dem Leben auf einem Walfangschiff. Nicht irgendeinem noch dazu, sondern jenem des Kapitän Ahab, der sein Bein an den großen weißen Wal verloren hat, den sie mit ihm nun durch die Weltmeere jagt.

Thalia Theater

Regisseur Antú Romero Nunes (aktuell läuft im Akademietheater sein Hotel Europa oder Der Antichrist) inszeniert diese Suche als ein abwechslungsreiches Spiel mit Stimmungen: mit Verzweiflung und Furor, mit Frohlocken und Wahnwitz, mit Schwermut und Spannung. Nunes gibt dem Publikum einen Effekt und nimmt ihn ihm wieder. Angst hat er davor nicht. Genauso wenig wie die Mannschaft vor diesem Leviathan, von dem einer sagt, dieser sei keine Allegorie.

Aber er ist es doch – auch. Ein Bild für eine Sehnsucht, für etwas Quälendes, etwas Übergroßes. Wie die ganze Geschichte. Überraschende Kurven werden da gekriegt zwischen Fischerlatein und Moralphilosophie, während das Blut spritzt wie die Gischt. Während man die Planken wischt und badet. Unterm Regenbogen tanzt und Spermazet zerdrückt. Singt und ausnimmt.

Packende Bilder im Dunkel

Auf ihre Weise realistisch und dabei doch noch mehr poetisch begleiten starke Bilder über 100 Minuten lang den Überlebenskampf, der auf das anfängliche Deklamieren folgt. Als Sprechchor entwickelt das Ensemble (Julian Greis, Mirco Kreibich, Daniel Lommatzsch, Thomas Niehaus, Jörg Pohl, Rafael Stachowiak, André Szymanski, Sebastian Zimmler) einen irrsinnigen Sog. Im einen Moment eine Wucht, sind die Darsteller im nächsten zum schwankenden Häufchen zusammengerottet ganz vorn an der Rampe und doch ganz verloren vorm schwarzen Bühnendunkel.

Solche Effekte sind keine unsinnigen. Sie sind präzise. Gleichen sie auch Tumulten, dienen sie doch der Konzentration. Die Musik- und Klangdramaturgie (Johannes Hofmann, Rewert Lindeburg) ist vom Feinsten. Witz und Humor reichen von Wortspielchen und einem Augenzwinkern bis zum Slapstick. Nie vergreifen Nunes und seine fantastischen Darsteller sich am Gift der Ironie.

Action mit Ablaufdatum

So majestätisch die Natur sich in ihren Worten aufbäumt, so sehr rührt die Aufführung an einer Ahnung von etwas Großem. Nie mit Pathos, sondern mit Aktion. Zwischendurch bleibt einem nur übrig, dieses Theater für die Sinne zu bestaunen.

Das Heil kommt nicht, es geht nur immer alles weiter. So lautet die tragische Erkenntnis spätestens, als die Schlussszene um Statisten auf ein Vielfaches von Melvilles Seemännern anschwillt.

Das Schauspiel selbst endet nach zweieinhalb Stunden ohne Pause. Dann möchte man hier nicht Putzfrau sein. Aber Zuschauer! Und man wünscht, diesen bravourösen Kraftakt öfter als nur noch einmal, nämlich Donnerstagabend, in Wien erleben zu können. (Michael Wurmitzer, 5.5.2016)