Wien – Sie haben es alle nicht einfach. Xenia, die Tochter des Zaren Boris, leidet, weil ihr Bräutigam verstorben ist. Xenias Amme leidet, weil Xenia leidet. Der Mönch Pimen leidet, weil er zum einen alt ist und zum anderen zu viel weiß. Der Gottesnarr leidet stellvertretend für die orthodoxe Seele, aber auch deshalb, weil ihm die Kinder eine Kopeke abgeluchst haben. Das russische Volk leidet, weil das russische Volk im Prinzip immer leidet. Und Boris Godunow leidet, weil ihm der Geist des ermordeten Zarewitschs die Seelenruhe raubt.

Ja, es wird quasi pausenlos gelitten in Modest Mussorgskis Oper Boris Godunow, deshalb passt es auch gut, dass die Wiener Staatsoper nach unterschiedlichen Werkversionen seit April 2012 die knapp zweieinhalbstündige Urfassung der Oper im Repertoire hat – pausenlos, versteht sich. Yannis Kokkos hat deren sieben Bilder in Szene gesetzt, zwischen einer grau-schwarzen, abstrakten Kulissenlandschaft sieht man reichlich bedrücktes Volk in gegenwartsnahem Gewand und viel hochintensives Agieren der solistischen Kräfte.

Abgerockt im Goldmantel

René Pape gibt den zermürbten Zaren, komplett abgerockt steht er am Ende da in seinem knittrigen, bodenlangen Goldmantel, mit wirrem, schulterlangem Fetthaar und irrem, gehetztem Blick: großartig. Der Deutsche singt eindrucksvoll mächtig, leicht spröde nur in den oberen Regionen. Wie er zieht auch Kurt Rydl als Pimen im letzten Bild noch einmal alle Register darstellerischen und gesanglichen Könnens. Da wird man wieder wach.

Nein, das wurde man schon im dritten Bild, als die zwei Aktivposten Ryan Speedo Green und Benedikt Kobel als Warlaam und Missail wieder Leben in die Bude der Schenkenwirtin (geschäftig: Aura Twarowska) brachten. Belebend später auch der runde, gleißende Sopran von Aida Garifullina (als Xenia) und der helle Tenor von Norbert Ernst als Schuiskij – in den oberen Regionen. Wohlklingend Clemens Unterreiners Schtschelkalow, leichtgewichtig Pavel Kolgatins Gottesnarr. Mit Feingefühl, Umsicht und präzisen Handkantenschlägen führte Marko Letonja das mehr als solide Staatsopernorchester durch das düstre Werk. Freundlicher, und doch ermatteter Beifall am Ende. (Stefan Ender, 9.5.2016)