Seine ersten publizistischen Schritte legt er grundsätzlich an. Das Interview mit "SPÖ Zentralsekretär Dr. Josef Cap" dreht sich um die künftige Ausrichtung der Sozialdemokratie – bereits im Titel wird festgehalten, wohin die Reise geht: "Partei der Zukunft!", formuliert das 1989 der Interviewer und damalige Chefredakteur des VSStÖ-Blattes Rotpress, Christian Kern.

Schon als Studentenpolitiker in der Rolle des "Helden": Christian Kern war damals auch journalistisch aktiv.

Im Gespräch mit Cap will der junge, linke Studentenpolitiker wissen: "Was werden die Grundfeste sozialdemokratischer Politik sein?", und: "Wie bist du mit dem Anteil der SPÖ an der Arbeit der Koalitionsregierung zufrieden?" Cap gibt damals den Extremisten, findet, man müsse "über jeden Kompromiss unzufrieden" sein. Kerns Politikverständnis ist ein anderes. Eines Tages wird er es zeigen können.

Bereits in der folgenden Ausgabe lächelt er vom Cover der Rotpress, in Szene gesetzt vom damaligen Geschäftsführer und Layouter der Zeitung, Stefan Pöttler – ein Freund und Wegbegleiter, den Kern seither nicht mehr aus den Augen verliert. Die dazugehörende Titelgeschichte lautet "Die neuen Helden", Kern verspricht jenen, die ihm bei der Studentenvertretungswahl ihre Stimme geben, ein "Mitspracherecht über den Wahltag hinaus".

Kanzler statt Revolutionär

Seit damals hat der seit Jahren als Kanzler to be gehandelte Bundesbahn-Chef einen steilen Aufstieg hingelegt. Die Themen aus Studententagen wirken heute wie eine Vorwegnahme der aktuellen Ereignisse. Erst Klassensprecher im Simmeringer Gymnasium und Mitglied beim anarchistischen Basiskomitee, gründet Kern später eine Alternative Liste in seinem Heimatbezirk Wien 11. Gerne erzählt er vom einstigen Jobwunsch "Berufsrevolutionär". Nach Lektüre der Tagebücher des Che Guevara sei ihm das jedoch zu entbehrungsreich gewesen. Also begeistert sich Kern für Günther Nennings Buch "Realisten oder Verräter? Die Zukunft der Sozialdemokratie".

Christian Kern interviewt Josef Cap in der Rotpress, der Zeitung des VSStÖ.

Genau die liegt seit Freitag, als sich die roten Landesparteichefs nach dem Abgang von Werner Faymann auch formell auf Christian Kern als neuen roten Mann an der Spitze geeinigt hatten, in den Händen des 50-Jährigen. Endlich.

Viele Jahre fiel sein Name immer dann, wenn die Unzufriedenheit mit der roten Parteiführung besonders groß wurde. Das passiert nicht zufällig, auch wenn der Sohn einer Sekretärin und eines Elektroinstallateurs politische Ambitionen stets mehr oder weniger bemüht von sich gewiesen hat. Kern, dem fast jeder, den man fragt (bis auf Nationalratspräsidentin Doris Bures, aber das ist eine andere Geschichte), das nötige Rüstzeug für den roten Spitzenposten attestiert, wählte den Weg über die Bande.

Stefan Pöttler und Alfred Gusenbauer im Jänner 2007 im Parlament.
Foto: Cremer

Journalistisch zieht es ihn zunächst zum Wirtschaftspressedienst und zum Wirtschaftsmagazin Option, 1991 heuert er unter Franz Vranitzky als Assistent von Peter Kostelka an – zunächst zur Unterstützung des damaligen Staatssekretärs im Kanzleramt, später als Büroleiter und Pressesprecher im Parlament, als Kostelka zum Klubchef aufgestiegen war. Nebenbei schreibt Kern, von dem es heißt, er sei eine Zeitlang alleinerziehender Vater eines Sohnes gewesen (später folgen zwei weitere Söhne sowie eine Tochter mit Ehefrau und Unternehmensberaterin Eveline Steinberger-Kern), seine Diplomarbeit im Bereich Publizistik und Kommunikationswissenschaften.

Stefan Pöttler ist bereits damals an seiner Seite, gemeinsam dient man unter Kostelka. Pöttlers nächste Karrierestation ist das der Wiener SPÖ nahestehende Echomedienhaus, später wird er Sprecher von Kanzler Alfred Gusenbauer. Vor zweieinhalb Jahren hat ihn Kern wieder zu sich geholt, wo sich der Freund um "Corporate Affairs", also politisches Lobbying kümmern soll. Pöttler ist nicht der Einzige, der Kern in der Vorbereitung auf höhere rote Weihen unterstützt. Auch David Mock, früher Pressesprecher des damaligen SP-Kanzlers Viktor Klima, werkte bis vor kurzem in der bahneigenen Kommunikationsabteilung, wird von Kern, der ihn seit einer Ewigkeit kennt, aber weiterhin als Ideengeber geschätzt. Dafür ist Sven Pusswald jetzt da, auch er einst Sprecher von Alfred Gusenbauer. Außerdem an Bord: Maria Maltschnig, Schwester von Eva Maltschnig, die wiederum Vorsitzende der roten Revoluzzer-Sektion 8 ist.

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Christian Kern und Doris Bures. Sie treffen sich nun in der Politik.
Foto: Reuters/Bader

Kein Wunder, dass im Konzern ob Kerns Absprung heller Aufruhr herrscht. Nicht nur wird erwartet, dass er einige der Genannten als Mitarbeiterstab ins Kanzleramt mitnimmt. Für all jene bei den Bundesbahnen, die von Kern in Leitungsfunktionen bestellt wurden, bricht mit seinem Abgang auch ein wichtiger Rückhalt weg.

Erfolgte die Ansammlung von roten Kanzlersprechern allein mit Blick auf den roten Chefsessel und Kanzlerposten? Kern würde das entschieden dementieren.

Im Verbund, wo er 1997 als Vorstandsassistent beginnt, kurz darauf Chef für Strategisches Marketing und Verkaufssteuerung wird und zehn Jahre später an die Spitze der Verbund-Tochter Austrian Power Trading wechselt, erzählt man sich andere Geschichten. Hier habe Kern schon vor Jahren fallenlassen, als Reserve für den Job des roten Riesen bestimmt zu sein. Ein anderer Weggefährte bestätigt das: "Das wollte er immer, jetzt hat er sein Ziel erreicht."

Was seine Arbeit beim Stromriesen anlangt, sagt man ihm nach, er habe "zur rechten Zeit den Absprung geschafft". Einst von ihm eingefädelte Auslandsbeteiligungen sind später, als die Energiewirtschaft in eine strukturelle Krise schlitterte, den Bach hinuntergegangen. Bei Kerns Abgang war davon noch nichts zu spüren. Als im Mai 2009 die Position des Post-Chefs vakant wird, ist der Manager im Gespräch. Später hieß es, er habe abgewunken – weil er letztlich chancenlos war, mutmaßen böse Zungen. Der Wechsel vom börsennotierten Top-Player zum miefigen Staatsbetrieb ÖBB hat dann viele verwundert. Aber die Rolle des Retters, der immer dann auf den Plan tritt, wenn das Image im Keller ist, scheint Kern zu gefallen.

Der Bahnhof Tullnerfeld wird im Jahr 2012 eröffnet, mit dabei: Doris Bures, Erwin Pröll und natürlich: Christian Kern.
Foto: STANDARD/Fischer

Bei der Bahn ging Kern in die Offensive, sprach offen über ein Versagen der bisherigen Unternehmensleitung – eine Einschätzung, die er im kleinen Kreis übrigens auch über Kanzler-Vorgänger Werner Faymann zum Besten gibt. Unter ihm als ÖBB-Chef müssen die schlechten Leute gehen, er holt sich Manager von außen für wichtige Vorstandsposten. Die schwarze Reichshälfte akzeptiert das Vorgehen ob des derangierten Zustands des Unternehmens ohne großes Murren. Seine guten Kontakte konnte Kern im Führerstand der Bundesbahn sowohl innerhalb als auch außerhalb der SPÖ hervorragend ausbauen. Über Jahre pflegte er mit Länder- und Industriechefs gute Kundenbeziehungen, konnte sich von Vorarlberg bis zu Erwin Pröll in Niederösterreich ein dichtes Netzwerk an Wohlgesonnenen knüpfen. Kontaktpflege gelingt auch andernorts: Mit dem Wiener Bürgermeister Michael Häupl und dem burgenländischen Landeshauptmann Hans Niessl sitzt die sportliche Kanzlerhoffnung (Laufen, Mountainbiken, Ski fahren) im Kuratorium seiner "Violetten", dem Fußballtraditionsklub Austria Wien.

Netzwerk vor Bahnnetz

Ein Mitstreiter moniert, in den vergangenen zwei Jahren seien die Reisen in die Bundesländer, die Eröffnungen der kleinen Bahnhöfe, das Repräsentieren immer mehr in den Vordergrund gerückt. Die Ambition, die nächsten Restrukturierungsschritte zu gehen – darunter auch Eingriffe bei den Lokführern und den Mitarbeitern der u. a. in St. Pölten angesiedelten Instandhaltungswerke, die beide als Herzstück der Eisenbahnergewerkschaft gelten -, sei jedoch in gleichem Maße zurückgegangen.

Bei den einfachen Mitarbeitern ist Kern überaus beliebt. Im Intranet kommuniziert er mit ihnen mittels Videobotschaft, platzt vor Stolz über das gelungene Handling auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Kern gab der einst geprügelten Eisenbahnerseele ihren Stolz zurück, heißt es. Gewerkschafter Roman Hebenstreit sagt im ORF Radio, er müsse jetzt bei der Belegschaft "einige Tränen wegwischen". Dass Kern gleichzeitig als Häferl gilt, die Stimmung in manchen Sitzungen mit seiner scharfen Rhetorik zum Gefrierpunkt bringt, ist die andere Seite seiner kommunikativen Stärke. Und, ja, Kern steht gerne im Mittelpunkt. Macht und Einfluss treiben ihn an, heißt es unisono, er habe seinen Eintrag im Geschichtsbuch im Auge.

Peter Kostelka fällt anderes ein, was Kern auszeichnet: "Sein Ideenreichtum, sein großes Engagement, seine außerordentliche Intelligenz", bilanziert er über den einstigen Mitarbeiter als einer der wenigen, die sich vom Standard namentlich zitieren lassen. Für Kostelka ist Kern "ein überzeugter Sozialdemokrat, er hat aufgrund seiner weiteren Tätigkeit aber den Wert der Pragmatik kennengelernt".

Neuer und alter Kanzler: Werner Faymann und Christian Kern.
Foto: APA/Neubauer

Pragmatik erwarten Insider auch bei der künftigen Ausrichtung der SPÖ. Kern denke in strategischen Optionen, heißt es, werde also die Partei aus ihrer Pattsituation befreien und jedenfalls in Richtung FPÖ aufmachen. "Als Oppositionsführer kann ich ihn mir nicht vorstellen", erklärt dazu ein Kern-Kenner. Wurde er zu seinen Politik-Ambitionen befragt, sagte Kern selbst immer, er wolle "vermittelbar" bleiben.

Auch seine Eitelkeit und der Drang, "gut wegzukommen", fallen immer wieder. Kerns Vorliebe für dunkle Anzüge und perfektes Styling wird ihm, gepaart mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein, nicht selten als Arroganz ausgelegt. Dass er daran auch selbst einen Anteil hat, zeigen von mehreren Seiten bestätigte Schilderungen darüber, wie er bereits beim VSStÖ und später bei Verbund und ÖBB andere wegen ihres Kleidungsstils gemaßregelt hat. Sein Modebewusstsein hat ihm auch einen passenden, bevorzugt englisch auszusprechenden Spitznamen eingebracht: CK, wie das gleichnamige Modelabel.

Nur einen gibt es, der ihm in der Regierung in Sachen Auftreten und Styling Konkurrenz machen könnte. Sein Name ist Sebastian Kurz, Außenminister und Zukunftshoffnung der Schwarzen. Bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Leadership in volatilen Zeiten" stand Kurz Kern um nichts nach – immer wieder wird das Duo K & K als koalitionäres Zukunftsszenario in beiden Parteien beschworen. Kern könnte das gefallen, er liebt die Herausforderung. Andererseits: Den Platz an der Sonne teilen?

Kern bezeichnet sich als Medienjunkie, ist bei Journalisten bestens vernetzt. Er weiß genau, wen er bei welchem Thema anruft – und greift auch persönlich zum Hörer, wenn ihm ein Artikel nicht passt.

01/531 70-0.

(Karin Riss, 14.5.2016)