Viele Menschen haben das Essen verlernt. Sie können nur noch schlucken." Ob Paul Bocuse, einer der bekanntesten französischen Köche, mit diesem Zitat seine eigenen Landsleute meint? Wahrscheinlich nicht, gelten Franzosen doch als wahre Genießer und Kenner, wenn es um Kulinarik geht. Der 90-jährige Bocuse, der das Genießen nicht nur auf das Essen beschränkt (und mit drei Frauen zusammenlebt), hatte immer etwas für die einfache Küche übrig.

Das bringt er auch in einem seiner Bücher, "Cuisine de France", zum Ausdruck. Darin schreibt er, dass die Küche lediglich 20 Prozent eines Restaurants ausmache. Der Rest sei die Atmosphäre. Und genau das entspricht wahrscheinlich so gar nicht der Vorstellung der meisten Österreicher, wenn sie an französische Küche denken.

Mit der Grande Nation (wie Frankreich ironischerweise fast nur im deutschsprachigen Raum genannt wird) verbindet man mehrgängige Menüs, unaussprechliche Gerichte und teuren Champagner. Gut, ganz falsch ist das natürlich nicht. Wer aber denkt, in Frankreich äße man täglich Froschschenkel, Austern und Gänseleberterrine, der hat die Klischeekeule ein bisschen zu heftig geschwungen.

Macarons bekommt man in Frankreich an jeder Straßenecke. Auch in Österreich gibt es das französische Baisergebäck – nicht nur in Rot-Weiß-Rot.
Foto: Lukas Friesenbichler

Diese vorurteilsbehaftete Ehrfurcht vor der Cuisine française überrascht auch Gastronom Christoph Heinrich immer wieder. "In der französischen Küche gibt es so viele einfache Gerichte. Die Landhausküche ist, entgegen vielen Vorurteilen, sehr populär in Frankreich. Das hat nichts mit Haute Cuisine zu tun. Manche unserer Gäste tun sich schwer, Gerichte zu bestellen, aus Angst, sie könnten etwas falsch aussprechen. Das merken wir vor allem beim Wein", sagt Heinrich, der seit fünf Jahren mit seiner Frau das Bistrot Beaulieu in der Wiener Innenstadt betreibt und durchaus einen Wandel in Österreich beobachtet.

"Klassische Snacks wie Quiches oder Crêpes kennt man mittlerweile auch bei uns. Früher mussten wir Kunden noch erklären, was das überhaupt ist. Lillet, den urfranzösischen Aperitif, bekommt man heute ebenso überall wie Crémant." Das nimmt so manch französischem Gericht mit seinem zutiefst höfisch klingenden Namen den Zauber.

Genau dieser Zauber ist es aber auch, vor dem so mancher bei uns Angst hat. Zu fein, zu kompliziert, zu viele Gänge – diese Vorurteile machen es der französischen Küche in Österreich nicht gerade leicht. Liegt es an den unaussprechlichen Gerichten, den gehobenen Preisen oder am Spezialbesteck, das man beispielsweise für Hummer oder Schnecken verwendet? Selbst Gastronomen finden keine Erklärung für die fast schon frankophobe Ablehnung der einflussreichsten Küche Europas gegenüber.

Ebenfalls ein Klassiker: Croque Monsieur, die französische Version des Schinken-Käse-Toasts. Das Rezept gibt es in der EssBar.
Foto: Petra Eder

Wer hat's erfunden?

2010 wurde das "gastronomische Mahl der Franzosen" von der Unesco sogar zum immateriellen Kulturerbe ernannt. "Frankreich war maßgeblich an der Entwicklung der gehobenen Gastronomie beteiligt. In Italien war zwar der Ursprung, aber die Franzosen haben es übernommen", sagt der französische Koch Denis König, der in der Wiener Innenstadt das Restaurant Le Salzgries betreibt. Damit meint er die italienischen Einflüsse durch Katharina von Medici, die im Jahr 1547 Köche aus Italien mit an den französischen Hof brachte.

Im 17. und 18. Jahrhundert war die französische Küche auch in Europa in vielen Adelshäusern bestimmend. Auch das in Frankreich erfundene mehrgängige Menü wurde in westlichen Küchen immer populärer. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand die heute bekannte Haute Cuisine, die gehobene nationale Küche, die oft mit der Nouvelle Cuisine verwechselt wird.

Viele Gemeinsamkeiten

Bei der "neuen Küche", die unter anderem durch die Gastrokritiker Henri Gault und Christian Millau ("Gault Millau") mitgeprägt wurde, geht es aber nicht um aufwendig zubereitete und mehrgängige Menüs. Die zehn Grundsätze umfassen unter anderem die Vereinfachung der Zubereitung oder die Frische der Zutaten.

Wer sich mit der französischen Küche beschäftigt, wird merken, dass sie viel mit der österreichischen gemein hat. "Pot au feu zum Beispiel ist nichts anderes als der Alt-Wiener Suppentopf, Rindergulasch ist in Frankreich das Boeuf Bourguignon. Die Gewürze sind natürlich anders, das Grundrezept ist aber sehr ähnlich", sagt Heinrich. Das kann auch König bestätigen: "Eine der größten Gemeinsamkeiten zwischen der französischen und der österreichischen Küche ist die Vorliebe für Schmorgerichte. In Österreich benutzt man mehr Zwiebel, in Frankreich mehr Knoblauch. Das ist aber auch abhängig von der Region."

Der Gaumen der Franzosen

Der tatsächliche Unterschied liege laut dem Spitzenkoch eher im Geschmack der Franzosen. "Die Ansprüche an Produkte sind in Österreich komplett andere als in Frankreich. Wir haben einmal Lammfleisch aus der Provence und aus Irland bestellt, das sehr fett und geschmacksintensiv war. Bei unseren Gästen ist es nicht gut angekommen. In Österreich mag man es lieber weich und nicht so intensiv. Wild soll nicht nach Wild schmecken. Der Gaumen der Franzosen ist nicht feiner, sondern einfach nur anders trainiert" sagt König, der bereits als Kleinkind mit Lammhirn und anderen Innereien gefüttert wurde, wie er erzählt.

Cassoulet – Bohneneintopf mit Speck, Fleisch und Würsten.
Foto: apa/afp/gabalda

Vielleicht liegt es gerade an diesem trainierten Gaumen, dass so viele Sterneköche aus Frankreich kommen. Aktuell gibt es 26 französische Restaurants, die mit drei Michelin-Sternen bewertet sind. Man muss aber nicht in Frankreich leben, um französische Küche zu lieben. Großereignisse wie die aktuell stattfindende Fußballeuropameisterschaft tragen dazu bei, sich dem Gastgeberland nicht nur sportlich, sondern auch kulinarisch anzunähern.

Bars bieten vermehrt französische Klassiker an, Restaurants nehmen Gerichte wie Bouillabaisse oder Coq au Vin auf ihre Karten, und Buchverlage veröffentlichen französische Kochbücher. Niemand muss Angst vor der hochstilisierten Küche haben, und Gastronomen dürfen ruhig noch mehr Savoir-vivre nach Österreich bringen. (Alex Stranig, RONDO, 11.6.2016)