Ein Tanz der Geschlechter bei Anne Teresa De Keersmaeker.

Foto: Van Aerschot

Wien – Der Mann ist bloßgestellt: als eitel, destruktiv, neidig, wehleidig und kurzsichtig. Eine lange Geschichte weist ihn als Diktator, Massenmörder und Vergewaltiger aus. Seine gegenwärtige Identitätskrise birgt auch Gefahren.

Denn der Umschwung vom patriarchalen System zu etwas möglicherweise Besserem geht nicht friktionsfrei vonstatten. Daher wird das "Mannsein" zum Thema zahlloser künstlerischer Arbeiten – auch im zeitgenössischen Tanz.

Zwei besonders prominente davon sind noch am Montag bei Impulstanz zu sehen: Anne Teresa De Keersmaekers Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke im Odeon und die Neuauflage von Wim Vandekeybus' In Spite of Wishing and Wanting (1999) im Volkstheater.

Eine Herde junger Hengste springt im Kreis

De Keersmaeker (56) und Vandekeybus (53) gehören gleichermaßen zu den ganz groß Gewordenen der Gegenwartschoreografie, die den westlichen Tanz, wie er heute aussieht, maßgeblich mitbeeinflusst haben.

Vandekeybus zeigt ein soziopsychologisches Porträt des Geschlechts, das so lange glaubte, das "starke" zu sein. Die dahinterliegende Idee von Stärke ist vorsintflutlich, denn sie bezieht sich zuerst auf Körperkraft und damit verbundene, im Lauf der Kulturgeschichte dazuerfundene Attribute. In dieser historischen Koppel lässt Vandekeybus eine Herde junger Hengste im Kreis springen.

Das "Revival" des Stücks wirkt abgeklärter als die Testosteronparty der Erstfassung von 1999. Vandekeybus zeigt den Mann als Wesen, das, weil es körperlich kein Leben gebären kann, ständig mit Träumen und hochfliegenden Plänen schwanger gehen muss.

In künstliche Hüllen gesperrt

Mann liegt viel in Wehen: mit Werkzeugen und mit seiner "Performance" (Leistungsdarstellung) vor seinesgleichen. Er baut die Konkurrenz aus, bis sie ihn in Krisen führt, in Krieg und Kollaps.

Der Uterusneid wird bei In Spite of Wishing and Wanting nicht direkt angesprochen, wohl aber das übliche Getue in Männerritualen.

In dem Stück tritt keine einzige Tänzerin auf. Über den Ausschluss der Frau verweist Vandekeybus unter anderem darauf, dass der kulturell genormte Mann der Frau symbolisch beweisen will, den größeren zu haben – Uterus nämlich. Wenn er sie in künstliche Hüllen sperrt: ins Haus oder in materielle Abhängigkeiten.

Erosion der Geschlechterbilder

Zum Uterusneid existiert offenbar nur wenig psychoanalytische Fachliteratur. Auch auf Google erscheint der Begriff nur 842 Mal ("Penisneid": 66.100 Zähler).

Anne Teresa De Keersmaeker setzt sich mit der Genderfrage in sublimierter Form auseinander, wie bei ihrem Cornet. Ein Vergleich mit Verklärte Nacht, das sie bald bei Impulstanz im Volkstheater zeigt, zahlt sich aus.

Dort wird das Geschlechterverhältnis der romantischen Liebe gemessen. Im Cornet-Stück glüht das Abwägen von Leidenschaften, in der Verklärten Nacht geht es um die Leidenschaft, die ein Abwägen – hier der Protagonistin zwischen zwei Männern – leitet.

Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke ist spannend bis zuletzt. Nicht nur in der gezirkelt dargestellten Erosion der Geschlechterbilder bei den Figuren: De Keersmaeker selbst, der Musikerin Chryssi Dimitriou und dem Tänzer Michaël Pomero. Sondern auch im Verhältnis von Text, Musik und Tanz.

Oskar Werner spricht mit

De Keersmaeker spricht einen Teil des Rilke-Cornet in der Fassung von 1906 selbst. Das tut sie im Duktus der 1984 verstorbenen österreichischen Schauspielerlegende Oskar Werner, die den Cornet wiederholt vorgetragen hat.

So tanzen Rilke und Werner in De Keersmaekers Körper. Zum Teil vor der Projektion des Texts auf den Bühnenhintergrund, zum Teil auch mit dem männlichen Tänzer und zum Dritten mit dem Sound: Dimitrious Querflöte (Salvatore Sciarrino) und dem Knirschen der Körper auf der Tonerde des Bühnenbodens.

Schon bei Rilke wanken die Geschlechterbilder. In diesem Stück wenden sie sich um. (Helmut Ploebst, 18.7.2016)