Riccardo Massi (Calaf) und Ensemble in "Turandot".

Foto: APA/DIETMAR STIPLOVSEK
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Bregenz – Jahr für Jahr dasselbe Spiel: Gebanntes Blicken auf den Wolkenhimmel, Abwägung der Garderobenstrategien zwischen ästhetischen und pragmatischen Gesichtspunkten. Am Nachmittag vor der Premiere des Spiels auf dem See gab dann der ORF-Wetterbericht vorsichtig Entwarnung: Mit etwas Glück könne es trocken bleiben.

Dass statistisch gesehen bei jeder Aufführung fast zwei Prozent der Vorarlberger Bevölkerung auf den knapp 7.000 Plätzen der Seebühne sitzen, gibt der Veranstaltung eine spürbare Bedeutung im ganzen "Ländle". Fast jeder weiß, was gerade gespielt wird, kennt das Bühnenbild, ahnt das kulturelle respektive wirtschaftliche Gewicht des Unternehmens.

Jedes zweite Jahr gibt es eine Neuproduktion auf dem Bodensee, dazwischen kehrt ein wenig Binnenroutine und Entspannung ein. Die Atmosphäre bleibt jedoch knisternd genug.

Glühende-Küsse-Musik

Puccinis "Turandot", das erste Spiel auf dem See der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka, erweist sich auch im zweiten Jahr als glückliche Konstellation, Puccinis Tränendrüsen-, Herzklopf- und Glühende-Küsse-Musik rund um die "kalte" chinesische Prinzessin als weitgehend kompatibel mit den Dimensionen der in diesem Fall 72 Meter breiten und bis zu 27 Meter hohen Kulisse.

Regisseur Marco Arturo Marelli, der seine Sichtweise auf das Stück auch anderswo (und vielleicht nicht immer auf der gleichen Höhe) ausgebreitet hat, vermittelt hier – ganz ähnlich wie die Oper selbst – gekonnt zwischen Opulenz und Intimität: Das Bühnenbild des Schweizer Großmeisters zeigt dieses Spannungsfeld dadurch, dass es neben dem monumentalen Setting auch einen vergleichsweise winzigen Rahmen, eine kleine Kammer mit Pianino und Bett, gibt.

Hier haust – ein schon anderswo da gewesener, aber praktikabler Ansatz – niemand anderer als der Komponist selbst, der in die Rolle des unbekannten Prinzen schlüpft, um die Titelfigur zu erobern. Als Turandot klang Mlada Khudoley bei der Premiere fast immer ebenso makellos wie Guanqun Yu als Liù, während Rafael Rojas als Kalaf hörbar um die richtige Dosis an Volumen bemüht war und die drei witzig tänzelnden Minister Ping (Mattia Olivieri), Pang (Peter Marsh) und Pong (Martin Fournier) einen einzigen Aussetzer der ansonsten ziemlich perfekt funktionierenden Tonanlage erdulden mussten.

Tiefenschärfe

Stimmen beurteilen lassen sich unter diesen Umständen wie immer nur mit Vorbehalt, zumal sie auf der Bühne einer Menge wechselnder Parameter ausgesetzt sind. Währenddessen ist es immer wieder erstaunlich, was für eine hohe Qualität die Übertragung des Orchesters und Chores aus dem Festspielhaus auszeichnet: Natürlich kommt die Musik durch einen akustischen Filter; sie erhält jedoch eine Tiefenschärfe, die perfekt zum optischen Cinemascope passt.

Paolo Carignani, der tags zuvor schon als Dirigent der Premiere von Franco Faccios "Amleto" als diesjähriger "Hausoper" ein Musterbeispiel an konturierter Differenzierung und flexibler Prägnanz bot, zeigte auch bei "Turandot" wieder mit den hervorragend disponierten Wiener Symphonikern eine stringente Verbindung von kantiger Straffheit und klanglicher Duftigkeit bei den Naturschilderungen und in den Liebesgefilden. Manche Feinheiten der Partitur wurden in der Verbindung mit der Tontechnik wie unter dem Vergrößerungsglas deutlich.

Dadurch passierte etwas Paradoxes: Gerade das äußerst Leise, etwa atmosphärisches Streicherflirren oder die kleine Flöte in höchster Lage inmitten des großen Orchesters, war so präsent wie sonst nur selten. Damit wurde die Oper am See fast so schillernd wie das Naturschauspiel der Farben am Horizont. (Daniel Ender, 22.7.2016)