Ein in Paris nicht heimisch gewordener Immigrant verwandelt sich in einen Geysir: Christian Bakalov.


Foto: Ivo Dimchev

Wien – Der junge Mann steht da wie angewurzelt. Seine Gesichtszüge zeigen eine Mischung aus Entsetzen, Enttäuschung und Resignation. Später im Stück wird sich herausstellen, dass er ein Immigrant ist. Der bulgarische Choreograf Ivo Dimchev hat dieses Solo aus dem Jahr 2008 gerade bei Impulstanz im Kasino am Schwarzenbergplatz gezeigt: Paris.

Es ist, auch angesichts der Flüchtlingsbewegungen jüngeren Datums, kein prophetisches Kunstwerk. Denn in Frankreich hat es ab 2005 immer wieder Unruhen gegeben, die deutlich zeigten: Mit der Immigrationspolitik des Landes ist prinzipiell etwas schiefgegangen.

Dimchevs von dem Tänzer Christian Bakalov überzeugend dargestellter Immigrant ist auch nach vielen Jahren nicht an der Seine heimisch geworden: Die Leute in den U-Bahnen sähen krank aus, das Essen hier hasse er, die Filme in den Kinos würden ihn deprimieren, und die Bars seien voll mit aggressiven Leuten. Als er das sagt, hat er bereits körperlich zum Ausdruck gebracht, wie mies er sich fühlt.

Toleranz und Ablehnung

Bakalov ist nicht wirklich allein auf der Bühne. An der Seite sitzt Ivo Dimchev mit Keyboard, Mikrofon und Computer, spielt Musik, singt und assistiert seinem Soloperformer sogar, als der sich nach seinem klagenden Monolog kurzfristig in einen menschlichen Geysir verwandelt und wilde Wasserfontänen spuckt. Dimchev gibt kurz die klein spuckende Brunnenfigur, bevor sich Bakalov heftig an dem Widerspruch zwischen Toleranz und Ablehnung, mit der Flüchtlinge und Immigranten umgehen lernen müssen, reibt.

Durch diese Art von Beteiligung am Geschehen und den wiederholten Versuch, seinen Tänzer anzusprechen, öffnet Dimchev die Blase des Fiktiven, die sich stets um ein Bühnengeschehen im Theater bildet. Exakt an diesem Punkt trifft sich seine Arbeit mit der des französischen Choreografen Xavier Le Roy. Dieser zeigte im Akademietheater ebenfalls ein Solowerk: das dreiteilige Untitled (2014).

In den Überschneidungen zwischen Paris und Untitled (2014) wird die Wahrnehmung des Publikums ausgetestet. Dimchev macht klar, dass die von Bakalov dargestellte Figur nicht bloß erfunden ist. Le Roy wiederum stellt sich im ersten Teil seines Stücks als er selbst vor seine Zuschauer, um sich Schritt für Schritt ins Fiktive zurückzuziehen.

Xavier Le Roy sucht den direkten Dialog mit dem Publikum: Leider habe er das Gedächtnis verloren, jetzt brauche er Hilfe. Aus den Sitzreihen kommen Fragen, die vor allem zum Ziel haben, Le Roys Schlagfertigkeit herauszufordern. Denn alle wissen natürlich, dass er nur mit der Illusion von Amnesie spielt.

Doch im Hintergrund läuft ein grundlegenderes Spiel: Wie ist mit einer Situation umzugehen, in der die Täuschung zum erkennbaren Teil von Tatsachen wird? Was dominiert im Publikum: die gute Miene zum Mitspielen oder der Versuch, den Künstler bloßzustellen? Während der Vorstellung am Donnerstag im Akademietheater überwog Letzteres.

Dynamik im Auditorium

Xavier Le Roy weckte die im Auditorium schlummernde Dynamik gerade so weit, dass spürbar wurde, wie sehr ein Publikum sich aufheizen kann. Solche Experimente sind, wenn sie gut angelegt sind, selbstverständlich ebenso aufregend wie jedes Geschehen auf der Bühne. Und ein solches folgt dann bei Untitled (2014). In Teil zwei zeigt sich Le Roy zusammen mit zwei lebensgroßen Marionetten: Eine wird erfolgreich vom Schnürboden her bewegt. Die andere versucht Le Roy selbst zu steuern. Vergeblich.

Konsequent verwandelt sich der Tänzer im Schlussteil von einem scheinbar leblos daliegenden Körper in einen obszön laut röhrenden, dysfunktionalen Roboter. Hier zitiert Le Roy mehrfach aus dem Solo Self Unfinished, das 1998 seinen künstlerischen Höhenflug einleitete. Mit den Marionetten und dem Roboter berührt Le Roy inhaltlich Dimchevs Immigranten. "It's all very polluted here", stellt diese Gliederpuppe sozialer und politischer Dynamiken in Bezug auf unser überdrehtes System sinnloser Automatisierung fest. Wie wahr. (Helmut Ploebst, 22.7.2016)