Europa als Körper, der neue Tricks lernen muss. Die Botschaft von Cirkus Cirkör: Wir schaffen das!

Foto: Nikola Milatovic / La Strada
Foto: Nikola Milatovic / La Strada

Den Zauberwürfel blind lösen: Im Gehirn sind die Drehungen mit den Irrwegen einer Fluchtgeschichte abgespeichert.

Foto: Martin Hauer/La Strada

Graz – Die Welt steht kopf. Wie ein riesiger schwangerer Bauch stülpt sich von oben eine amorphe Wasserkugel auf die Menschen herab. Übermächtig spuckt sie Akteure aus, bringt sie ins Wanken. Die Kontrolle werden die Mitglieder vom schwedischen Cirkus Cirkör aber an diesem Abend nie verlieren. Die Truppe aus Akrobaten, Künstlern und Musikern eröffnete am Freitagabend das internationale Festival La Strada, das eine Woche lang ganz Graz mit über 100 Veranstaltungen bespielt, in der Grazer Oper.

Als Kind sei sie mit dem Boot von Schweden von Finnland gefahren, erzählt eine Frau ganz zu Beginn auf Englisch, und habe dabei versucht, die Grenze zwischen den beiden Ländern zu spüren. "Ich konnte mir nicht vorstellen, wie eine Grenze in etwas sein soll, das ständig in Bewegung ist."

Limits heißt die Produktion, mit der die Festivalleitung (Werner Schrempf und Diana Brus) ein starkes Zeichen setzte. Denn die Künstler aus Schweden kamen nicht, um sich mit Trapez und Trampolinakten auf einer hübschen Metaebene den Begriff von Grenzen spielerisch zuzuwerfen, wie Jonglierkeulen. Sie kamen richtig zur Sache.

Platz für die Realität

Ja, auch an einem Eröffnungsabend in der Grazer Oper, an dem im 19. Jahr des Festivals die Champagnerisierer auch wohlig angekommen sind und es am Pausenbuffet echte Empörung über bestellte und nicht sofort bekommene Getränke gibt, darf die Realität Platz haben. Und die sieht so aus: Die Welt ist Bewegung, weil Menschen um ihr Leben laufen. Ein ganz kleiner Teil von ihnen ist nach Europa gekommen. Der Cirkus Cirkör – dessen Name aus Cirkus und dem französischen Herz, also Coeur, gebildet wurde – zeigt die Fluchtbewegungen der Welt mit Balkendiagrammen, jongliert mit echten Zahlen und projiziert, soweit sie vorhanden sind, auch die Namen tausender Ertrunkener auf die Bühne.

Dazwischen zeigt man mit dem, was man hat – den Körpern von Ausnahmeakrobaten -, wie man sich das so vorstellt, mit der Welt. Es sei nämlich so, dass Menschen, die sich bewegen, die Welt in Balance halten, erklärt eine Stimme aus dem Off, "und wenn wir beginnen Zäune zu errichten, gerät die Welt aus dem Gleichgewicht. Sie droht zu kippen." Vertrauen und das Wissen, dass einen der Partner fangen wird, wenn man fällt, seien wichtig, nicht nur für die Arbeit, erzählt eine Künstlerin.

Zäune, die wie von selbst stehen, werden bei furcherregenden Klettereien überwunden, meterhohe Mauern aus dicken Matten, immer wieder in noch höheren Sprüngen genommen. Eine Frau schaukelt auf einem Trapez durch die Ruinen einer zerbombten Stadt, die an Aleppo erinnert. Einer ihrer Kollegen löst mit verbundenen Augen einen Zauberwürfel, weil er sich die Richtungen der nötigen Drehungen am bunten Würfel anhand einer Fluchtgeschichte gemerkt hat. Hinter ihm hängt eine Schullandkarte – als sanfte, aber offensichtliche Erinnerung. Es ist Europa zur Zeit des Zweiten Weltkrieges.

Gewaltiges Gesamtkunstwerk

Licht und Soundeffekte, die eingespielten Videos und die live gespielte Musik von Samuel Andersson und Thea Åslund haben großen Anteil an dem Gelingen dieser gewaltigen zwei Stunden, die zeigen, was neuer Zirkus kann: erzählen, zum Staunen und Nachdenken bringen. Ohne Kitsch. Ohne peinliche Kostüme. Mit klarer Botschaft. Konzept und Regie des Gesamtkunstwerks stammen von Tilde Björfors.

Am Ende steht Hoffnung. Die Sicht auf die Welt aus der Perspektive von Zirkusmenschen ist bestechend: Man soll sich Europa als Körper vorstellen, sagt die Stimme aus dem Off. Wenn man einen schwierigen neuen Zirkustrick lernen will, muss man hart trainieren. Aber das sei zu schaffen. (Colette M. Schmidt, 1.8.2016)