Den ganzen Vormittag starre ich auf mein Handy, es piept in einem fort. Dauernd spuckt es Nachrichten aus, über Menschen in Not, über Flüchtlinge, über Traiskirchen, über das, was gerade an Spenden zur Versorgung gebraucht wird. Ich sehe in den Medien die Mütter mit ihren Kindern auf der Straße sitzen. Bloß, sie sitzen nicht mehr irgendwo in Syrien. Sie sitzen in Traiskirchen, in Niederösterreich.

Helfen – ja, aber wie?

Viele Menschen sind an diesem Samstag, dem 5. September 2015, an die Grenze gefahren, holen Leute vom Bahnhof in Budapest, machen sich dabei strafbar. Es wird Nachmittag. Ich schaue meine Kinder an. Und ich sehe in ihnen plötzlich all die, die da im Niemandsland zwischen Grenzen sitzen. Ich muss los, muss etwas tun. Ich organisiere einige Frauen. Jede von ihnen reißt den Kleiderkasten auf, eine ist noch bei Ikea. Sie kauft 20 Decken, es soll regnen in dieser Nacht. In unserem Kindergarten hätten als Werbung Regenponchos verteilt werden sollen, die Kartons kommen jetzt mit uns mit. Innerhalb einer Stunde haben wir gepackt.

Wir kaufen in der nächsten Drogerie kistenweise Windeln und Deosprays. An der Kasse lassen uns die Menschen vor. Es ist eine stillschweigende Übereinstimmung, die keine Worte braucht. Ein Mann zahlt spontan mit. Ich packe das Auto voll, plötzlich steht ein anderes vor meiner Tür. Das ist größer, sagt eine Freundin, die danebensteht, wir nehmen das. Der Weg zu dieser Grenze ist nicht weit von dort, wo ich wohne. Die Autobahn ist sehr voll, ganz ungewöhnlich voll. Die Kofferräume der Autos, an denen wir vorbeifahren, sind voller Kisten, Bananenschachteln, Wasserflaschen. Es sind die Gutmenschen, die sich da auf den Weg machen. Oder vielleicht sind es einfach nur Menschen, ganz ohne gut.

Endstation Bahnhof

Nickelsdorf ist konzentriert auf die Straßen rund um den Bahnhof. Es gibt zwei improvisierte Lager, in denen dutzende Leute Sachen sortieren. Die Straße zum Bahnhof ist mittlerweile gesperrt, ständig kommen Busse. Der andere Teil des kleinen Ortes an der Grenze versinkt in gespenstischer Stille. Die Vorhänge sind zugezogen, fast kein Mensch ist auf der Straße. Nur an den Zäunen hängen Mäntel, Decken, Kleidung, auf den Einfassungen stehen Wasserflaschen. "Zur freien Entnahme" steht auf selbstgebastelten Kartonschildern daneben.

Hunderte Menschen drängen sich auf dem kleinen Platz vor dem Bahnhof. Dort ist auch ein kleines Lokal, in dem einige Menschen in ihre Laptops tippen. Vielleicht sind es Journalisten, ich weiß es nicht. Daneben sitzen scheinbar Einheimische, die so wie wir einfach nicht fassen können, was hier gerade geschieht. Der Bahnhofsvorplatz gleicht einem Lager. Es gibt vielleicht zehn Tische und Bänke, provisorische Ausgabestellen, Menschen versuchen Struktur ins Chaos zu bringen. Ein junger Mann sortiert auf seinem Tisch Babynahrung, es gibt hungrige Säuglinge hier. Eine Mittsiebzigerin betreut die Ausgabe von Deos und Seifen.

Die Menschen, die da kommen, wollen in die Züge. Ständig bringen Busse weitere Menschen hierher, es werden immer nur für kurze Zeit weniger. Eine Familie betreut einen Stand mit Tee und Wasser unter einem Sonnenschirm. Sie müssen dann am Abend nach Hause, kommen morgen wieder. Daneben weitere Stände mit Decken, Kleidung, Jacken. Es ist nicht sehr warm an diesem Samstag. Wir haben ein kleines Zelt mit, das wir einer Frau mit drei Kindern anbieten. Es beginnt leicht zu regnen. Ein Mann schaut mich an und sagt: "Es ging immer nur um eine Wirtschaftsunion, oder? Es ging nie um Solidarität in der Europäischen Union, oder?" Ich bin still. Tränen laufen über mein Gesicht.

Was passiert hier?

Wir sammeln Müll ein, machen uns nützlich. Das Rote Kreuz ist da. Ich treffe einen entfernten Bekannten. Sein Sohn hat ihn nach einem Radiobeitrag über das, was an unseren Grenzen heute passiert, gefragt, warum den Menschen niemand hilft. Dann ist er gefahren. Er war schon zweimal in Budapest. Und er ist nie allein zurückgekommen. Er hat zwei, drei von befreundeten Juristen vorgefertigte Sätze auswendig gelernt, falls er aufgehalten wird. Er fährt jetzt wieder. Noch mehr Leute holen.

Dann wird es Abend, und der Zugverkehr wird eingestellt. Die Frauen mit den Babys und Kleinkindern sind immer noch da. Jeder und jede tut, was er oder sie kann. Die freiwillige Hilfsbereitschaft ist enorm. Wir haben alle keine Idee, wie das funktionieren kann. Wir haben keinen Plan. Vielleicht sind wir naiv, blauäugig, was auch immer. Vor uns stehen Menschen, die unsere Hilfe brauchen.

Ist es tatsächlich falsch, Menschen zu helfen? Ich kann nichts anderes sehen als Dankbarkeit, als das Miteinander. Hier am Bahnhof in Nickelsdorf. Irgendwo im Nirgendwo in Österreich. Es ist schon spät und dunkel, als wir fahren. Wir wissen, dass dieser Tag mit uns etwas gemacht hat. Genauso wie mit den Menschen, die da gekommen sind.

Auf dem Heimweg denke ich: Warum warst du überhaupt dort? Ein schrecklicher Gedanke drängt sich mir auf. Bloß, weil du dabei sein wolltest? Es mit eigenen Augen sehen wolltest? Nein, sage ich mir, nein. Weil ich nützliche Dinge gebracht habe, weil diese Dinge gebraucht wurden. Weil sie vielleicht sonst nicht gebracht worden wären, weil sonst niemand mit den beiden Buben gespielt hätte, weil sonst vielleicht niemand mitgeholfen hätte beim Jackensortieren, beim Müllwegräumen, beim Essenausgeben. Mir ist aber auch klar, dass dieser Tag, dieses Wochenende nur der Anfang ist. Und ich weiß nicht einmal wirklich, wovon der Anfang.

Am nächsten Tag in den Abendnachrichten wird ein Beitrag mit einem Foto getitelt, auf dem drei kleine Mädchen in lustigen bunten Decken am Westbahnhof sitzen. Sie lächeln, ihnen ist sicher warm. Es sind unsere Decken, in die sie da gewickelt sind. (Sanna Weisz, 4.9.2016)