Wien/Damaskus – "Die Syrer, ein gebildetes Volk mit ehemals mittleren Einkommensverhältnissen, haben Panik, dass ihre Kinder in den regionalen Flüchtlingslagern ohne Ausbildung und Arbeit zu einer verlorenen Generation werden", erklärte Dawn Chatty, Exdirektorin des "Refugee Studies Centre" der Oxford University am Montag in Wien. Solange in dem Land gekämpft wird, würden sie daher nach Europa streben.

Vor den Kämpfen sei Syrien ein Land mit einer großen, gebildeten Mittelschicht und passablen Einkommen für die Menschen gewesen, so die emeritierte Professorin für Anthropologie zum Auftakt der Jahrestagung Migrations- und Integrationsforschung an der Universität Wien. Die meisten Menschen seien zunächst in die Nachbarländer Jordanien, Libanon und Türkei geflohen, um vorübergehend Schutz zu suchen, weil sie auf ein absehbares Ende der Gefahren hofften. Sie wollten in der Region bleiben und dort nur so lange arbeiten und ihre Kinder zur Schule schicken, bis der Krieg im Heimatland vorbei ist.

Kein Schulbesuch in den syrischen Nachbarländern

Im Libanon und in Jordanien dürften sie aber nicht arbeiten, und hätten keine Möglichkeit, ihre Kinder zur Schule zu schicken. In der Türkei wäre das theoretisch möglich, funktioniert aber praktisch aufgrund von Sprachbarrieren kaum. Deshalb sehen die syrischen Flüchtlinge in diesen Ländern äußerst düstere Aussichten für ihre Kinder, erklärte Chatty: "Sie wurden panisch, dass ihre Jugend keine Bildung bekommt, sich radikalisiert oder vielleicht sogar zurück nach Syrien geht". Also seien sie weiter in Richtung Europa gezogen oder schickten zumindest ihre Kinder dorthin.

Teilweise sieht man mittlerweile, dass die Familien nachkommen, so Chatty. Solange die Kämpfe in Syrien nicht vorbei sind, sei es illusorisch, dass die Flüchtlingsströme abreißen, egal wie dicht man die Routen zu schließen versucht. "Grenzen funktionieren nicht, wenn die Menschen verzweifelt sind", sagte sie. Ginge es um ihr Leben oder die Zukunft ihrer Kinder, würden sie einen Weg darüber hinweg finden, wenn nötig über Ausweichrouten.

"Angespannte Situation"

Für Europa sei der Anstrom durchaus handhabbar, meint Chatty. Auch wenn in der Politik und von der Presse von einer "Krise" für Europa gesprochen und geschrieben würde – so eine sehe sie nicht. Bestenfalls eine "angespannte Situation". (APA, 13.9.2016)