Wien – Laiendarsteller in allen Facetten sind das edle Gut des Dokumentartheatertrios Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel). Menschen stellen ihre Biografien und oft auch ihr Antlitz in den Dienst einer dokumentarischen Erzählung. Sie berichten als "Experten des Alltags" zum Beispiel von ihrer Tätigkeit im Sterbebusiness (Deadline) oder von Atomtests in Semipalatinsk (Bodenprobe Kasachstan), suchen nach ihrer Herkunft in Südkorea (Black Tie) oder chauffieren ihr Publikum im Truck herum (Cargo Sofia). Theater und Soziologie, Kunst und Statistik, Schauspieler und Mensch fallen da in eins.

Nun hatte Hausbesuch Europa Österreich-Premiere im Brut. Dabei findet sich das Publikum zu einem Gesellschaftsspiel rund um einen Tisch in einer Privatwohnung ein und ist dort sein eigener Akteur. Herzstück des geselligen Abends (oder Nachmittags) ist ein kleiner, selbstgebastelter Computer, der auf Knopfdruck einen Text mit Fragen oder Anweisungen ausspuckt: "Wer arbeitet regelmäßig außerhalb des Landes, in dem er/sie lebt?", "Wie hoch ist Ihr Solidaritätsgrad von eins bis fünf?"

Fünf Levels für Europa-Experten

Auf fünf Levels arbeitet man sich als eigener Europa-Experte hoch und gerät gegen Ende hin in die diffizile Lage der Partnerarbeit und Allianzbildung. Sollte Team orange, weil es dem eigenen Team einen Punkt nicht gönnte, bestraft werden? Aber sicher!

Allerdings, überlegt nochmal: Moralisch hochstehende Meinungen werden im Kreis der Spieler freilich eher belohnt. Hier, im Kreis der Kulturarbeiter (die Privatwohnungen werden meist von theaternahen Personen zur Verfügung gestellt), ist man sich an der Oberfläche schnell einig, und es fällt auch nicht allzu schwer, sich zu Werten wie Demokratie, Friede oder Solidarität zu bekennen.

Die Aufteilung des Kuchens

Am Ende geht es – gemäß der erspielten Punktezahl – an die Aufteilung eines Kuchens, der sich während der Spielzeit im Backrohr allmählich aufgebläht hat und der vielversprechend aus der Küche herüberriecht. Werden jetzt alle gleich viel bekommen? Leider nein, aber das war ja klar. Die Spieldramaturgie evoziert Konkurrenzdenken, und man ist – wie im europäischen Staatengebilde – sich selbst einfach der Nächste.

Hausbesuch Europa, das seit dem Vorjahr durch zehn europäische Länder tourt und dabei insgesamt in über 500 Wohnungen gastieren wird, verlangt klare Entscheidungen ab. Jeder Einzelne ist persönlich adressiert und muss Haltungen überprüfen. Darin liegt die Kraft des Abends. Und bei genauerer Betrachtung erkennt man, wie rasch man auf Abweichungen stößt und dass andere Menschen andere Grenzen ziehen würden als man selbst. (Text: Margarete Affenzeller, Video: Maria von Usslar, 30.9.2016)