Somnambule Mondkinder mit vielversprechenden Namen: "pfeil herbert" (Sebastian Wendelin, li.) und "fauna florentina" (Irina Sulaver) im Stück "der herzerlfresser" am Akademietheater.

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Wien – Die bestürzende Unsitte des "Herzerl-Fressens" ist historisch erstaunlich gut belegt. Der landauf, landab gefeierte Jungdramatiker Ferdinand Schmalz hat sich von einer Mordserie im Mürztal zur Abfassung von der herzerlfresser bewegen lassen. Ein sittlich ungefestigter Rauf- und Trunkenbold namens Paul Reininger meuchelte vor rund 230 Jahren an den lieblichen Abhängen der Steiermark ein halbes Dutzend Frauen.

Vom Verzehr ihrer noch warmen Herzen versprach er sich u. a. Glück im Spiel. Joseph II., wiewohl der Todesstrafe abhold, verhängte über den monströsen Täter die schärfste Form der Züchtigung. Unter der Wirkung unzähliger Stockstreiche hauchte Reininger sein Leben aus.

Jetzt ist das unschöne Geschäft des Herzverzehrs, angeblich eine vom Teufel persönlich eingefädelte Unsitte, eine Angelegenheit des Wiener Akademietheaters geworden. Zur österreichischen Erstaufführung des in Leipzig herausgebrachten Stückes setzt es Lametta. Unzählige Glitzergirlanden bilden einen blauen Lianenwald. Grillen und Olme vervollständigen die nächtliche Kulisse zirpend und quakend (Bühne: die ingeniöse Bilderfinderin Katrin Brack).

Ferdinand-Schmalz-Figuren sind natürlich keine gewöhnlichen Menschen wie du und ich. Sie raspeln ein jambisch fließendes, gelegentlich hochkomisches Süßholz, das Ödön von Horváth und Werner Schwab gemeinsam geschnitten haben könnten. In herzerlfresser hält sich das Regionale – Liebe, Angst, Macht, Sehnsucht – mit dem Globalen – Errichtung einer Shopping-Mall auf dubiosem Sumpfgelände – erstaunlich die Waage.

Die Handlung ist natürlich ein gut durchkalkulierter Witz. Das Stück, das ja von einem regional strikt eingegrenzten Fleck erzählt, tritt eindrucksvoll auf der Stelle. Wann immer die Schmalz-Figuren nicht weiterwissen, sprechen sie ein betont gewähltes, situationselastisch leicht handhabbares Feuilleton-Soziologisch ("Es gibt ein Leben unter dem Gewerbepark!").

Sie sind überwiegend zärtlich gestimmt. Sie ähneln somnambulen Mondkindern wie die "fauna florentina" (Irina Sulaver). Sie zitieren ausgiebig zoologisches Halbwissen, um in Liebesdingen den Anschein von fachlicher Kompetenz zu erwecken. Unsere Vorbilder in allen anwendungsbasierten Fragen der Erotik sind daher Bonobo-Affen, Grillen und Eintagsfliegen.

Ein verhuschter Security-Beamter (Merlin Sandmeyer) muss seinem Provinzbürgermeister (Johann Adam Oest) unter der Hand versprechen, nichts von den herzlosen Frauenleichen zu erzählen, die das Moor ohne Unterlass hochrülpst. Er soll verdeckt ermitteln, um die wirtschaftliche Gründerzeit nur ja nicht mit unliebsamen Fleischüberresten zu konfrontieren.

Ein Mann in Frauenkleidern (Peter Knaack) ist nicht nur eine theoretisch sattelfeste Fußpflegerin, sondern in den Ortsvorsteher rettungslos verliebt. Und zwischen allen diesen Unglücksvögeln geistert "pfeil herbert" (Sebastian Wendelin) herum, ein biegsam-dubioses Bürschchen mit dünnem, angeklatschtem Haar. Er bemächtigt sich fremder Damenherzen, um wenigstens auf diese brachiale Weise Nähe zu praktizieren.

Zur Eröffnung des Einkaufszentrums wird ein Fest spendiert, mit Barbie-Bauchtanztruppe und gefühlsechter Ansprache des lokalen Wohltäters. Oests Bürgermeister ist der wahre Schatz dieser braven, ein wenig verzärtelten Aufführung (Regie: Alexander Wiegold). Er schnappt und bibbert – ein Pappkamerad auf der Suche nach menschlicher Wärme, der nach den Brosamen des Glücks pickt und hackt. In die Arme von (falschen) Damen kippt er beseligt, als wäre unser aller Leben nur ein Vorspiel zu einem traumlosen Schlaf ohne Erwachen.

Seid nett zueinander

Ein Schuss fällt noch – im Akademietheater wird das Gewaltgeschehen eher im Schnelldurchlauf erledigt. Man hätte sich dieses recht altklug daherkommende Stück gern auch in grelleren Herzfarben ausgemalt gedacht. Hier wird, auf durchwegs erfreulichem Niveau, abgewiegelt. Das Stück sagt: Die Liebe, unbedingt beim Wort genommen, kostet das Leben. Die Aufführung meint: Wir müssen unbedingt nett zueinander sein!

Und das darf man ja, unter Verzicht auf jegliche Form von Radikalität, auch einmal gelten lassen. Herzlicher Applaus, mit Jubel für den jugendlichen Dramatiker. (Ronald Pohl, 10.10.2016)