Bild nicht mehr verfügbar.

"Breaking Bad": Chemielehrer Walter White biegt notgedrungen, weil todkrank und schlecht versichert, vom rechten Weg ab, um fortan Drogen zu kochen. Das kann er, die Knarre zu bedienen, bald auch. Und die Moral von der Geschicht'? Er ist nur böse eben nicht. Oder anders gesagt: Solche Serien trainieren unser Urteilsvermögen.

Foto: AP / AMC, Doug Hyun

"Die Renaissance des Religiösen muss auch in den Schulen zum Gegenstand gemacht werden", sagt Erziehungswissenschafter Markus Rieger-Ladich von der Universität Tübingen.

Uni Tübingen

STANDARD: Friedrich Nietzsche meinte: "Gott ist tot." Der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller hielt in "Der grüne Heinrich" dagegen fest, nein, "Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn". Aktuell dreht sich tatsächlich viel um diesen "Gott", welchen auch immer. Das Thema ist jedenfalls durch den Flüchtlingszuzug wieder stark präsent. Was bedeutet das für die Schule?

Rieger-Ladich: Im Zusammenhang mit der Aufnahme vieler Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, ist deutlich geworden, dass wir uns endlich von der Sehnsucht nach einer materialen Wertethik verabschieden müssen. Als meine Eltern in der Nachkriegszeit in Deutschland aufwuchsen, war gesellschaftliche Heterogenität kaum Gegenstand öffentlicher Debatten. Man wusste natürlich, dass es Muslime gibt, man wusste auch, dass es Schwule und Lesben gibt, aber diese Themen prägten nicht den Alltag in einer hessischen Kleinstadt. Heute ist das anders. Auch eine ländliche Grundschule ist nun von kultureller und sozialer Differenz geprägt. Wir müssen uns also von dem Bild eines relativ homogenen Nationalstaats verabschieden – und das ist gut so.

STANDARD: Was bedeutet das, wir müssen ohne materialen Wertekanon auskommen?

Rieger-Ladich: Nun, es bedeutet zunächst, dass es in der Schule weniger darum geht, einen definierten Wertekanon zu vermitteln. Integration bedeutet nicht, dass alle an den richtigen Stellen das Häkchen unter die zehn goldenen Regeln des Zusammenlebens machen. Stattdessen wird es künftig darauf ankommen, das Urteilsvermögen der Schülerinnen und Schüler zu trainieren. Es wird darum gehen, die Pluralität von Lebensformen und Lebenswelten nicht als Bedrohung wahrzunehmen, sondern als Gewinn. Diese Pluralität eröffnet dem Einzelnen neue Freiheitsräume. Wir sollten darauf stolz sein, das ist eine zivilisatorische Errungenschaft!

STANDARD: "Mit Pluralität umgehen" ist rhetorisch einfach ...

Rieger-Ladich: Das stimmt – und im Alltag kann der Umgang mit Pluralität schnell zu einer Herausforderung werden. Zunächst wähnen wir uns, wenn wir aufwachsen, im Mittelpunkt der Welt. Das ist für ein Kleinkind ganz natürlich. Aber wenn es die Schule besucht, trifft es auf andere, die sich ebenfalls im Mittelpunkt der Welt wähnen. Eine Bildungseinrichtung ist daher auch ein Ort, an dem wir aus dem Zentrum gerückt werden. Mit 25 Narzissten können Sie keinen Unterricht organisieren. Zeit, Aufmerksamkeit und Zuwendung sind auch in der Schule knappe Ressourcen. Die nächste "Zumutung" besteht dann darin, auf Schülerinnen und Schüler zu treffen, die andere Überzeugungen, andere Vorlieben haben. Dabei geht es oft um elementare Fragen: Was halte ich für wahr? Wie will ich mein Leben leben? Bei solchen Fragen können Sie keine Mehrheitsentscheidung treffen. Wir müssen die Schule daher als einen Ort verstehen, an dem wir mit Differenz konfrontiert werden. Und in solchen Fragen kann niemand beanspruchen, das letzte Wort zu haben. Hier wird das Zuhören wichtiger als die Fähigkeit, auf alles eine Antwort parat zu haben.

STANDARD: So einfach ist das?

Rieger-Ladich: Nichts davon ist einfach. Das kann im Unterrichtsalltag ziemlich mühsam sein. Wir müssen das Zuhören einüben und das Antworten; wir müssen uns dabei um Genauigkeit bemühen und den Umgang mit Komplexität einüben. Das versuche ich auch meinen Studierenden zu erklären: Wir konfrontieren sie an der Uni mit komplexen Beschreibungen; ich erspare ihnen das nicht. Und dies gilt auch für die Schule: Auch hier müssen wir uns darum bemühen, präzise zu sein, den Umgang mit Argumenten einüben. Und damit rechnen, dass es Fragen gibt, die wir argumentativ vielleicht gar nicht abschließend klären können – etwa wenn es um Glaubensfragen geht. Wenn jemand, wie Max Weber das einmal formulierte, für religiöse Fragen "unmusikalisch" ist, also unempfänglich, dann ist das schlicht zu akzeptieren, so wie es zu akzeptieren ist, dass ein anderer vielleicht eine besondere Antenne für Fragen der Mystik hat.

STANDARD: Luxemburg hat gerade den konfessionellen Religionsunterricht abgeschafft und in allen Klassen verpflichtend durch den Kurs "Leben und Gesellschaft" ersetzt. Was halten Sie davon?

Rieger-Ladich: Religionen sind im Wettstreit der Ideen noch immer wichtige Akteure – und für viele identitätsstiftend. Sie spielen derzeit in Deutschland eine größere Rolle als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Nach 1968 dachten manche, die Religionen würden rasch an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren. Das war nicht der Fall. Daher muss die Renaissance des Religiösen auch in den Schulen zum Gegenstand gemacht werden. In Deutschland gibt es, historisch ist das nachvollziehbar, einen beträchtlichen Nachholbedarf, neben dem katholischen und evangelischen gleichberechtigt auch einen muslimischen Religionsunterricht anzubieten.

STANDARD: Wie kann man Moral beziehungsweise Werte am besten vermitteln?

Rieger-Ladich: Zunächst sollten wir davon ausgehen, dass es eine Vielzahl von konkurrierenden Instanzen gibt, die unterschiedliche Werte vermitteln. Denken wir etwa an eine 13-Jährige, die in einem Vorort von Wien oder in einem Dorf im Schwarzwald aufwächst. Sie wird von früh bis spät mit Instanzen konfrontiert, die unterschiedliche Überzeugungen verkörpern – Familie, Schule, Peers, soziale Medien. Das ist ihr Alltag, sie kennt es nicht anders.

STANDARD: Welche "moralischen Instanzen" außer den klassischen Wertevermittlungsorten verhandeln heute noch Moralfragen?

Rieger-Ladich: Als ich 17, 18 Jahre war, war ich von Dostojewski begeistert. Auch deshalb, weil in seinen Romanen – etwa in "Die Brüder Karamasow" – moralische Fragen verhandelt werden. Romane können unser Urteilsvermögen trainieren und zum Auslöser von Bildungsprozessen werden. Ich behaupte allerdings, dass dies heute auch TV-Serien vermögen. Dieses "Neo-TV" hat mit einer Serie wie "Dallas", die in den 1980ern lief, nichts zu tun. Ideologiekritisch würde man sagen: Sie lenkte von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ab. Statt diese Konflikte zu thematisieren, verhandelte man die Probleme von JR und Bobby Ewing. Das hatte eine entlastende Funktion, aber moralische oder politische Fragen wurden damals kaum verhandelt.

STANDARD: Wann und mit welchen Serien wurde das anders?

Rieger-Ladich: In den späten 90ern hat sich das Fernsehen neu erfunden. Es entstanden völlig neue Formate, in denen auch moralische Probleme verhandelt werden. In der Serie "The Affair" etwa werden wir mit einem Tableau ambivalenter Charaktere konfrontiert. Eine Qualität dieser Serie besteht darin, dass sie die Macht der Begegnung von Noah und Alison, die beide verheiratet sind, in einer Weise schildert, dass es uns schwerfällt, sie von vornherein zu verurteilen. Die Serie entfaltet eine unglaubliche Sogwirkung – wir sind selbst hin- und hergerissen, wir können die einzelnen Figuren verstehen und deren Handlungen sehr gut nachvollziehen.

STANDARD: Was bedeutet das?

Rieger-Ladich: Beim Schauen von "The Affair" wird auf sehr raffinierte Weise unser Empathievermögen stimuliert – und eben nicht auf eine Person fokussiert. Wir nehmen unterschiedliche Perspektiven ein. So funktionierte das schon bei Dostojewski. "Die Brüder Karamasow" ist so angelegt, dass wir an jedem der drei Brüder, die unterschiedliche Lebensentwürfe verfolgen, Anteil nehmen. Wir werden hier also nicht einfach zu Parteigängern. Und genau das kennzeichnet auch "Qualitätsserien" wie "Breaking Bad", "The Sopranos" oder "The Wire". Unsere eigenen Überzeugungen – das, was wir für gut und richtig halten – werden permanent auf die Probe gestellt. Diese Fernsehserien trainieren also unser Urteilsvermögen.

STANDARD: Werden wir also durch den Mafioso Tony Soprano oder den todkranken Chemielehrer und Drogenkoch Walter White bessere, moralisch reflektiertere Menschen?

Rieger-Ladich: Nein, das ist kein Automatismus, aber – diese Serien bieten uns dazu eine Chance. In "The Wire" etwa lernen wir ganz schnell, dass es auf der Seite der Polizisten und auf der Seite der Drogendealer korrupte Typen gibt. Aber es gibt auf beiden Seiten eben auch integre Figuren. Das typische Muster, das wir vom klassischen Western kennen – hier die Guten, dort die Bösen –, ist hier aufgelöst. Wenn Sie diese plumpen Unterscheidungen erst einmal hinter sich lassen, wird es richtig spannend ...
(Lisa Nimmervoll, 12.10.2016)