Der klassische Troll: Der Diskurs wird durch Gehässigkeit, Böswilligkeit, Mangel an Aufmerksamkeit und die fehlende Bereitschaft, Aussagen im Kontext zu beurteilen, vergiftet.

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Demokratie wird nicht durch bestimmte Formalien (Parlamentarismus, Meinungsfreiheit, Wahlrecht) garantiert, sondern benötigt ein kulturelles Fundament, das auf zivilisatorischen Einstellungen und Haltungen basiert wie Respekt vor anderen Meinungen, Empathie, Interesse an Differenzen, Aufgeschlossenheit. Wenn all das nicht vorhanden ist, werden rein formale Verfahrensweisen über kurz oder lang ebenfalls vor die Hunde gehen.

Aus diesem Grund ist die vergiftete Diskussionskultur in Deutschland meiner Ansicht nach die größte Gefahr für die Demokratie (ich bin mir nicht sicher, ob es in anderen Ländern auch so schlimm ist, ich habe manchmal den Eindruck, eher nicht, eine vergleichende Untersuchung dazu würde mich interessieren, falls es die gibt …).

Wie ein Diskurs vergiftet wird

Zwei Bausteine der Vergiftung von Diskursen sind schon häufig diskutiert worden, und zwar eine generelle Gehässigkeit und Böswilligkeit, wie sie zum Beispiel der klassische Troll zeigt, sowie eine fehlende Bereitschaft, dem, was jemand anderer sagt, überhaupt ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu schenken (worüber ich kürzlich gebloggt habe). Nun ist mir ein dritter Baustein aufgefallen, und zwar die fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit zur Kontextualisierung von Aussagen.

Das Beispiel, an dem es mir klar wurde: Voriges Wochenende war ich in Hannover bei der Bundesfrauenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen. Auf dem Abschlusspanel ging es um Ideen für eine zukünftige grüne Frauenpolitik, und nachdem auf der Konferenz zwei Tage lang das 30. Jubiläum des grünen Frauenstatuts gefeiert worden war (mit dem unter anderem die Frauenquote eingeführt wurde), habe ich dort meinen etwas kritischeren Blick auf die Quote vertreten.

In dem Zusammenhang sagte ich, dass es meiner Ansicht nach nicht ausreicht, einfach nur 50 Prozent Frauen in politische Gremien zu holen, wenn man die Absicht hat, dort etwas gegen männlich dominierte Kultur und Habitus zu unternehmen. Bei allen positiven Aspekten, die die Quote hat, läuft sie doch auch Gefahr, aufseiten der Frauen Konformismus und Anpassung an das Gegebene zu fördern und weibliche Dissidenz zu erschweren. Um meine Position anschaulich zu machen, sagte ich: "Wir bräuchten eigentlich keine Frauenquote, sondern eine Feministinnenquote."

Rassistische, sexistische und grundgesetzwidrige Forderung

Dieses Zitat haben die Grünen dann auf ihrem offiziellen Twitteraccount verbreitet, und es ergoss sich eine Flut von Replies, bei denen (überwiegend) Männer uns darüber belehrten, dass diese Forderung ganz unmöglich sei: nämlich rassistisch, sexistisch und grundgesetzwidrig, sie öffne Tür und Tor für eine islamistische Invasion, und ein gewisser Theodor Witter erklärte, er sei gut so, wie er ist, und müsse sich nicht verändern, wer das anders sehe, sei ein Menschenfeind. Werner Niedermeier warnte vorm Feminat. Don Alphonso initiierte mit seinem warnenden Hinweis, die letzte Quote für die "richtige" Ideologie sei von der Reichskulturkammer gemacht worden, den üblichen Reigen von Nazivergleichen. Uepsilonniks brachte Nordkorea ins Spiel. Daspunkt erklärte mich für hirntot, Baubeersepp erläuterte, dass es keine Geschlechter gebe, und HCHillmann war enttäuscht von der Menschheit.

Okay, dass die üblichen Gaga-Trolls so einen Anlass nutzen, um das zu schreiben, was sie immer schreiben, sobald etwas Feministisches gesagt wird, war irgendwie klar. Aber es gab auch andere, die so eine Art inhaltliche Auseinandersetzung versuchten und zum Beispiel besorgt fragten, welches Gremium denn wohl darüber entscheiden solle, wer Feministin sei und wer nicht? Und ob ich nicht vor lauter Feminismus die Frauen vergesse? Und ob ich nicht die Gefahr sehe, dass dann auch SWERFS und TERFS in den Bundestag kommen?

Kurzum: Sie behandelten die Idee mit der Feministinnenquote so, als sei sie ein aktueller konkreter Gesetzesentwurf der Grünen. Sie haben diesen einen Satz gelesen und sich überhaupt nicht gefragt, wer das wo und in welchem Kontext gesagt hat. Aber ohne das zu wissen, kann man natürlich nicht verstehen, was ich damit sagen wollte. Und dementsprechend auch nicht darüber diskutieren – und zwar auch nicht kritisch.

Irrelevanz als Methode

Denn ich muss etwas verstanden haben, bevor ich es sinnvoll kritisieren kann. Man kann natürlich immer über irgendwas diskutieren. Aber eine Demokratie lebt davon, dass über Ideen und Ansichten diskutiert wird, die irgendjemand tatsächlich hat und äußert, und nicht über das, was man sich selber zusammenfantasiert. Die fehlende Bereitschaft zur Kontextualisierung schädigt die Demokratie, weil sie politische Debatten über tatsächlich vorhandene Differenzen in den Ansichten verunmöglicht, indem sie lauthals so tut, als würde sie streiten, nur eben leider über Ausgedachtes. Irrelevanz als Methode.

Nun ist das 140-Zeichen-Twitterformat natürlich die Entkontextualisierung schlechthin, weil dabei per Default Mini-Textstückchen aus dem Kontext gerissen werden. Ich finde aber eigentlich, auf diese Weise wird gerade offensichtlich, dass hier der Kontext fehlt, dass man sich also eigentlich erstmal über den Zusammenhang informieren muss, bevor man einen Tweet versteht (wohingegen ein ganzer Blogpost den Eindruck erwecken kann, der Kontext werde komplett mitgeliefert, was aber niemals der Fall ist). Manche Leute verstärken den Out-of-Context-Charakter von Tweets noch, indem sie besonders "kryptisch" twittern, sodass die Aussage für sich gar keinen Sinn ergibt.

Instrument feministischer Theoriearbeit

Dass man jede beliebige Aussage nur verstehen kann, wenn man sie "kontextualisiert", also fragt, von wem zu wem bei welchem Anlass und mit Bezug auf welche Fragestellung diese Aussage getroffen wurde, war in den 1980ern ein wesentliches Instrument feministischer Theoriearbeit. Wir haben alles und jedes kontextualisiert, so viel, dass man das Wort irgendwann schon nicht mehr hören konnte. Ich weiß nicht genau, wie es heute ist, aber mir fällt auf, dass ich das Wort in aktuellen Texten schon länger nicht gelesen habe. Vielleicht ist es etwas aus der Mode gekommen, was schade wäre, denn wir brauchen das Konzept dringend.

Das Bewusstsein für die unverzichtbare Bedeutung des Kontexts ist ja im Übrigen auch schon viel älter. Schon Platon hat genau dies als einen der Fallstricke der Schrift identifiziert: Dass das Aufschreiben eine Aussage von ihrem Kontext löst, was ja gerade auch der Sinn des Aufschreibens ist: Man kann Wissen aufbewahren, über längere Zeiträume weitergeben und so fort. Zu Platons Zeiten war das der Unterschied zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit: Etwas Aufgeschriebenes konnte man an jedem beliebigen Ort und zu jeder beliebigen Zeit lesen, aber um ein gesprochenes Wort zu hören, musste man körperlich in der Situation anwesend sein, in der es gesprochen wurde. Das heißt, die Kontextualität war beim Mündlichen automatisch gewährleistet, wohingegen die Schrift die Aussage vom Kontext löste, was eben, wie schon Platon wusste, bei den Rezipierenden die Verantwortung mit sich brachte, das Gelesene zu "kontextualisieren", um es verstehen und damit auch kritisieren zu können.

Heute verläuft diese Linie nicht mehr zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, sondern zwischen medial Vermitteltem und nicht medial Vermitteltem. Aber das Prinzip ist natürlich dasselbe. Wer eine medial vermittelte Aussage rezipiert, ohne sich um ihren Kontext zu scheren, redet schlichtweg Bullshit. (Anje Schrupp, 14.10.2016)