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Was die Welt draußen denkt, schert die Führung in der Türkei nun wirklich nicht. Tayyip Erdoğan ist das Recht und der Staat und auch der Glaube. Alles in einem. Die Hofbücklinge sind mit ihm und die Wähler, die einen Übervater brauchen. Die moderne Türkei, die sich immer ungeliebt gefühlt hat, weder recht Europa noch Asien zugehörig, fällt nun in den autokratischen Einparteienstaat zurück, mit dem sie 1923, vor bald 100 Jahren, begonnen hat. Damals allerdings unter anderen Vorzeichen: Kemal Atatürk wollte ein modernes, westliches Land.

Mit der Verhaftung von oppositionellen Parlamentariern hat die türkische Führung einen weiteren Schritt weg von der Demokratie getan. Nicht dass die Ausschaltung der für Erdoğan so störenden prokurdischen Minderheitenpartei HDP nicht absehbar gewesen wäre. Seit das Parlament im Mai mit einer Zweidrittelmehrheit die Immunität seiner Abgeordneten einmalig aufgehoben hat – für sich genommen schon ein absurder Vorgang -, war klar, dass die Fraktion der HDP ins Gefängnis gehen würde. Doch die Geschwindigkeit und die Hemmungslosigkeit, mit denen sich Präsident und Regierung an die Arbeit machen, um politische Gegner im Land loszuwerden, überrascht die Europäer.

Was die Welt draußen tut, interessiert Erdoğan gleichwohl. Purer Druck ist eine Sprache, die der türkische Staatschef versteht. Vor Wladimir Putin ging er am Ende in die Knie und entschuldigte sich für den Abschuss eines russischen Kampfjets im November vergangenen Jahres. Es hat ein paar Monate gedauert, doch ein Embargo und andere Strafen, die sich der russische Präsident einfallen ließ, haben Ankara letztlich beeindruckt.

Aus Sicht der Europäer hat Erdoğan in dieser einen Woche schon zu viele rote Linien übertreten. Die Festnahme des Cumhuriyet-Chefredakteurs und seiner Mitarbeiter ist völlig inakzeptabel, ebenso die Absetzung gewählter Bürgermeister, die Massenentlassung von Staatsbediensteten ohne rechtlich definierte Kriterien und die Inhaftierung von Oppositionsabgeordneten. Darauf mit dem Stopp von Gemüseimporten aus der Türkei zu antworten, wie es Wladimir Putin getan hat, oder mit der Ächtung von Türkei-Urlaubern, ist für die EU kein gangbarer Weg. Sie muss sich anderes einfallen lassen, um die Führung in Ankara zu bremsen. Das allerdings sehr rasch.

Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass Präsident und Regierung für Mahnungen, ein rationales Maß bei der Aufarbeitung des vereitelten Militärputschs vom 15. Juli einzuhalten, nicht empfänglich sind. Die Verquickung von Strafaktionen gegen mutmaßliche Mitglieder des islamistischen Gülen-Netzwerks, gegen kurdische Politiker und gegen politisch Liberale macht einen Dialog mit Ankara äußerst schwierig. Die Diskussion über eine Wiedereinführung der Todesstrafe und der geplante Umbau der Verfassung für Erdoğans Ansprüche kommen noch dazu.

Ankara ist überzeugt, es könne die Europäer mit der Flüchtlingskrise erpressen. Dieses Argument muss die Europäische Union nun schnell und glaubhaft widerlegen. Eine Milliarde Euro im Jahr aus dem EU-Budget für die Türkei zur Vorbereitung des Beitritts ist viel Geld für ein Projekt, das die türkische Führung nun täglich demontiert. Auch das ist ein Argument, das Ankara erläutert werden sollte, bevor es zu spät ist. (Markus Bernath, 4.11.2016)