Wenn junge Freundinnen alte Freundschaften bedrohen: Die deutsche Regisseurin Alexandra Liedtke versucht sich an den Wiener Kammerspielen erstmals im komödiantischen Fach.

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STANDARD: Ein Mann besucht mit seiner neuen, jungen Freundin, deretwegen er seine Ehefrau verlassen hat, ein befreundetes Ehepaar, man gerät während des Essens in Streit. "Die Kehrseite der Medaille" klingt nach einer Melange aus "Gott des Gemetzels" und "Die Katze auf dem heißen Blechdach".

Liedtke: Tatsächlich ist es auch ein bisschen so. Yasmina Rezas Paarkonstellationen aus gutbürgerlichem Milieu: Das findet sich auch in diesem Stück wieder. Allerdings eben mit einem Kniff oder mit einer Art zu schreiben, die ich so bisher nicht kenne.

STANDARD: Mit welchem Kniff?

Liedtke: Das Stück besteht zur Hälfte aus den Texten, die miteinander gesprochen werden. Die andere Hälfte besteht aus dem, was sie wirklich denken, und das wird dem Zuschauer auch gesagt. Er weiß mehr als die Mitspielenden auf der Bühne. Kleine à parts kennen wir von vielen österreichischen Stücken, Nestroy und Raimund waren Meister darin. Doch hier wird dieses Beiseite-Sprechen überdehnt, es kann passieren, dass einer der Schauspieler eine Seite lang "denkt", ohne dass es die Mitspieler hören dürfen.

STANDARD: Wie schwierig ist so etwas zu inszenieren?

Liedtke: Im Vorfeld haben wir uns alle mögliche Hilfsmittel und Tricks ausgedacht. Der Autor selber empfiehlt, dass man die Gedanken mit Mikroports verstärkt, damit sie nie wirklich laut gesprochen werden müssen. Aber schon bei der ersten Leseprobe, als Schauspieler die Texte erstmals in den Mund nahmen, blickten sie beim Spielen miteinander ihre Kollegen an, bei den à parts mich. In dem Moment war mir klar, dass es ohne technische Hilfsmittel funktioniert. Und das ist auch für die Schauspieler der größte Spaß.

STANDARD: Kollidieren in dem Stück Bühnen- und Realzeit?

Liedtke: Ja, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Der größte Teil des Stücks spielt an einem Abend in der gleichen Länge, in der das Publikum im Zuschauerraum sitzt und teilhat an einem ganz bestimmten Lebensausschnitt. Ich brauche also reale Momente, damit ich sie, etwa in der Verlängerung von Zeit, brechen kann. Daher habe ich auch ein für meine Verhältnisse realistisches Bühnenbild mit Tischen, Geschirr, sogar Handys, was ich normalerweise nicht mag. Das sind Bedingungen, die das Stück an mich stellt: dass und wie ich mit den à parts umgehe; und dass reale Situationen ad absurdum geführt werden durch das laute Aussprechen der Gedanken. In manchen Situationen müssen die Kollegen extrem langsam werden und Zeit überspielen, während der Denkende ganz normal in seinem Tempo weiterdenkt. Also: Wenn sich jemand ein Glas einschenkt, und in dieser Zeit spricht jemand einen seitenlangen Beiseite-Text, dann wird das Füllen des Glases ein komischer Moment. Denn das Einschenken muss fünf Minuten dauern – so lange, wie das à part dauert. Hätte ich diesen Vorgang nicht, könnte ich nicht zeigen, dass ich die Realität verschiebe.

STANDARD: "Die Kehrseite der Medaille" ist Ihre erste Komödie. Fällt es Ihnen leicht, lustig zu sein?

Liedtke: Die erste Woche war wirklich hart. Meist beginne ich die Proben, indem wir uns mehrere Tage an den Tisch setzen und ich den Schauspielern erkläre, um was es für mich in dem Stück geht, in welcher Zeit wir das spielen, was die psychologische Struktur der Personen ist, warum jemand verletzt oder traurig ist. In dem Fall musste ich einfach lernen, dass es um bühnentaugliche Verabredungen geht und darum, ein Tempo, ein Gefühl, eine Musikalität für den Abend zu entwickeln. Das war in der ersten Woche eine wahnsinnig überraschende und interessante Erfahrung.

STANDARD: Und: Können Sie lachen?

Liedtke: Ja, jetzt kann ich sehr gut lachen. Das begann eigentlich schon während der Leseprobe. In der ersten Umsetzung musste dann die Leichtigkeit, die das Stück beim Lesen hatte, wiederhergestellt werden. Schwierig ist bei einer Komödie auch, dass wir als Team acht Wochen lang über denselben Witz lachen sollen. Wer kann das schon? Aber da gibt es ja Gott sei Dank immer wieder neue und komische Situationen auf der Probe.

STANDARD: Sugardaddy, junge Freundin, Best-Ager-Ehepaar, Eifersucht, Neid: Ist das Stück mitunter nicht ziemlich banal und scherenschnittartig?

Liedtke: Es ist auf gewisse Weise oberflächlich und banal, ja. Aber wie viele Essenseinladungen haben wir, die immer sehr geistreich sind? Der Witz entsteht dadurch, dass ich an der Oberflächlichkeit teilhaben darf. Durch das Lachen über die Figuren, durch kleine Irritationen ertappe ich mich bei der Überlegung, warum er die junge Frau nicht haben sollte, denn die ist ja überraschend nett und intelligent. Das wiederum lässt einen über die eigene Situation nachdenken.

STANDARD: Sind die Frauen eine Art Trophäe im Machtkampf der Männer, nach dem Motto: Meine ist schöner, jünger, toller?

Liedtke: Ja. Das ist sicher ein wichtiger Aspekt. Und er funktioniert im Theater genauso gut wie im realen Leben durch zwei dem Menschen innewohnende Eigenschaften: den Neid und die Angst vor dem Älterwerden. Die Paarkonstellationen im Stück funktionieren nur deshalb so gut, weil sie uns auch "in echt" ständig begegnen. Nur gibt es da dann immer auch die verlassene Person, die wir im Stück gar nicht kennenlernen. Sie gehört aber dazu. Auf den ersten Proben haben wir viel über diese Frau geredet: Wer wäre sie, wie wäre sie im Gegensatz zur anderen?

STANDARD: Geht es auch darum, dass bzw. wie Frauen- und Männerfreundschaften unterschiedlich sind?

Liedtke: Ja. Es wird zwar auf der Bühne nur die Männerfreundschaft gezeigt, aber trotzdem erfährt man viel über das Thema Freundschaft überhaupt: Gibt es eine gleichberechtigte Freundschaft oder setzt einer die Regeln fest, während der andere ihn bewundert? Und was geschieht, wenn diese Regeln gebrochen werden, wenn sich einer plötzlich ganz anders verhält als erwartet? Tatsächlich passiert bei den Proben immer wieder, dass jemand sagt: Ja, genauso habe ich es erlebt. Natürlich hat das Stück mit uns heute zu tun: Was geschieht, wenn um uns herum alles zerbricht? Und dann sind wir Gott sei Dank im Theater, und die Freundschaft der beiden Frauen kommt noch mal so richtig zum Zug. Denn wer hat schließlich den Abend in diese Richtung gelenkt, wer hat wem die Gedanken eingeflüstert und wer steht am Ende des Stückes da und sagt: "Ich bin ein Genie!"? (Andrea Schurian, 10.12.2016)