Elmar Brok war sauer: "Bestimmte Länder sind nicht europafähig, weil ihre Strukturen oder ihre politischen Entscheidungen wie Referenden den europäischen Prozess aufhalten …" Das sagte das dienstälteste Mitglied des Europäischen Parlaments, nachdem das Regionalparlament von Wallonien gegen das Ceta-Handelsabkommen mit Kanada gestimmt hatte.

Wer also den "europäischen Prozess" aufhält, ist "nicht europafähig". Worin dieser Prozess besteht, erläuterte der Christdemokrat nicht; aber man weiß bei Brok, was gemeint ist: der Weg zu einem föderalen europäischen Superstaat. Freilich gibt es viele Staaten und Bürger in der Europäischen Union, die in diesem Sinne "nicht europafähig" sind. Wahrscheinlich die Mehrheit.

Und wenn man nicht europafähig ist? Was passiert dann? Als die ungarische Regierung ein Referendum über die vom Europäischen Rat beschlossene Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen Staaten der EU abhalten ließ, meinte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, man müsse über einen Ausschluss Ungarns aus der Union nachdenken.

So könnte man freilich den Widerstand gegen den "europäischen Prozess" leicht überwinden: Man schließt einfach alle aus, die sich als "nicht europafähig" erweisen. Freilich könnte am Ende Luxemburg allein dastehen. Denn wie es der Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Norbert Röttgen kürzlich bei einer Lesung in Berlin unnachahmlich ausdrückte: "Europa ist nicht in der Krise. Die einzelnen Länder sind in der Krise." Woraus Europa besteht, wenn nicht aus den einzelnen Staaten, deren "Egoismus" Röttgen monierte, sagte der Christdemokrat nicht. Anscheinend handelt es sich bei Röttgens Europa um ein Platon’sches Gebilde: rein und schön, nicht angekränkelt vom Kontakt mit der wirklichen Welt nationaler Egoismen und mangelnder Europafähigkeit.

Asselborn: Das Volk nicht mehr fragen

Als die Niederländer das geplante Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine in einem Referendum ablehnten, wusste Jean Asselborn denn auch eine Antwort auf den Schlamassel: das Volk nicht mehr fragen. Wenn man Europa kaputtmachen wolle, so der Luxemburger, müsse man nur noch mehr Volksabstimmungen veranstalten. Asselborn spricht aus, was die meisten europäischen Politiker denken. Deshalb reagierte etwa auch Angela Merkel "gelassen" auf die Nachricht aus den Niederlanden. Sie sei weiterhin für die Annäherung an die Ukraine, nun sei es an der niederländischen Regierung und den "europäischen Institutionen", einen Weg zu finden – sprich: das Ergebnis des Referendums irgendwie zu ignorieren oder zu umgehen.

So macht man das nämlich in Europa. Als die Niederländer und Franzosen in Volksabstimmungen die europäische Verfassung ablehnten, wurden die Bestimmungen der Verfassung einfach in den Vertrag von Lissabon gepackt und von den Staats- und Regierungschefs verabschiedet. Als die Iren auch diesen Vertrag in einer Volksabstimmung ablehnten, mussten sie unter der Drohung des Entzugs von EU-Hilfen noch einmal abstimmen. Vom Fiasko der griechischen Volksabstimmung gegen das "Rettungspaket" der EU wollen wir erst gar nicht reden, schließlich redet auch die griechische Regierung nicht mehr davon, sondern setzt die Austeritätsauflagen aus Brüssel und Berlin mehr oder weniger widerwillig um.

Asselborn hat recht. Wenn man so weitermacht, zerstört man Europa, weil man das Vertrauen der Bürger in die Legitimität der Union zerstört. Asselborn hat aber noch mehr gesagt. Das Referendum sei als Ohrfeige für die Europäische Union zu werten, die in ihren Beschlussgremien viel zu intransparent sei und darum die Glaubwürdigkeit zu verlieren drohe. Und das ist Unsinn. Das EU-Parlament tagt öffentlich. Die Sitzungen des Europäischen Rats, in dem ja demokratisch gewählte Regierungs- und Staatschefs sitzen, werden medial intensiv begleitet. Die Kommission macht Vorschläge, die im Parlament, im Rat und in den Medien diskutiert werden. Die nationalen Parlamente haben Einspruchsmöglichkeiten und machen, wie das Parlament von Wallonien zeigt, davon Gebrauch. Europa ist bis zur Beschlussunfähigkeit transparent, geradezu basisdemokratisch.

Und da, nicht in mangelnder Transparenz, liegt das Problem. "Ihr 'Volk‘, mein Herr, ist nichts weiter als ein großes Tier." So sprach Alexander Hamilton, einer der Gründerväter der USA, zum basisdemokratischen Schwärmer Thomas Jefferson. Ein liberaler Staat, so Hamilton, brauche Institutionen, mit deren Hilfe die Elite "die Unüberlegtheit der Demokratie zügeln" könne. Der Selfmademan Hamilton kannte das Volk und wusste, anders als der Plantagen- und Sklavenbesitzer Jefferson, wovon er sprach.

Sicherungssysteme bei Volksabstimmungen einbauen

Der Rechtsstaat ist wie ein Atomkraftwerk: Er benutzt den Glutkern der Massenerregung als Energiequelle, kühlt ihn aber so weit ab, dass es nicht zum Super-GAU kommt. Bei Volksabstimmungen werden die eingebauten Sicherungssysteme – Ausschüsse, Anhörungen, Koalitionsverhandlungen, Kompromisse, Hinterzimmerabsprachen, der ganze todlangweilige und lebensnotwendige Prozess demokratischer Beschlussfassung – ausgeschaltet. Das kann nicht gutgehen. Es hilft nicht, nach dem Super-GAU auf die unfähigen Betreiber zu schimpfen. Politiker müssen vorher den Mut haben, dem basisdemokratischen Zeitgeist den Anspruch auf Führung entgegenzuhalten. Der Mangel an Mut ist wie radioaktiver Abfall, der das Grundwasser der Demokratie verseucht: das Vertrauen.

Die Niederländer haben ja auch nicht gegen undurchsichtige Institutionen gestimmt, wie Asselborn unterstellte, sondern gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, also dafür, das Land der Einflussnahme Moskaus auszuliefern. Links- und Rechtspopulisten haben gemeinsam agiert, um die europäische Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik zu sabotieren. Die Wallonen haben nicht gegen eine undurchsichtige und undemokratische Bürokratie im fernen Brüssel gestimmt. Brüssel liegt in der Wallonie. Sie waren ja demokratisch aufgefordert, ihr Votum zu einem Freihandelsabkommen abzugeben, und sie haben gegen den Freihandel gestimmt, gegen den auch in Deutschland Links- und Rechtspopulisten agieren.

Denn die EU ist nicht deshalb unpopulär, weil ihre Institutionen undurchsichtig wären. Sie ist unpopulär, weil sie ein Elitenprojekt ist und weil die Eliten zurzeit unpopulär sind – übrigens nicht nur in Europa, wie das Phänomen Donald Trump gezeigt hat. Was die europäischen Populisten von links und rechts eint, ist die Behauptung, die EU sei ein Instrument von "denen da oben" gegen "uns hier unten". Das war das Argument der Brexit-Befürworter, die unter der Losung kämpften, sie wollten "ihr Land zurückhaben". Viel Spaß damit, möchte man ihnen zurufen. Glaubt ihr ehrlich, ohne Brüssel wärt ihr weniger der Globalisierung und ihren Zwängen ausgeliefert?

Große Rezession als Zeitenwende

Es stimmt ja: Europa ist ein Elitenprojekt. Und das ist gut so. Wenn das "große Tier" sich der Vergangenheit, dem Nationalismus und Sozialismus, der religiösen, rassischen und sexuellen Intoleranz zuwendet, muss sich die Elite im Namen der liberalen Demokratie dagegenstemmen. Die Elite aber kann nicht länger so tun, als wäre die große Rezession von 2008 ff. keine Zeitenwende gewesen. Politiker und Publizisten, die den Kapitalismus verteidigen, die ökonomische Vernunft propagieren und den Markt als Mittel der Wohlstandssteigerung für alle sehen, werden durch Reiche und Mächtige desavouiert, die Kapital anhäufen, statt es zu investieren, die sich selbst von der ökonomischen Vernunft ausnehmen, die da sagt, dass es ohne Anstrengung keinen Gewinn geben dürfe, die den Markt zu ihren Gunsten manipulieren, sich im Notfall vom Steuerzahler retten lassen und sich zum Bunkern ihrer Profite der gleichen Steuerschlupflöcher bedienen wie Diktatoren, Mafiosi und Drogenschmuggler.

Es ist nicht zu spät, die Populisten in die Schranken zu weisen, aber mit mehr Transparenz und weniger Volksabstimmungen ist es ebenso wenig getan wie mit mehr Volksabstimmungen und anschließender intransparenter Durchwurstelei bei Bekundungen von "Gelassenheit". Schon gar nicht hilft es, mit Begriffen wie dem "europäischen Prozess", dem der "nationale Egoismus" im Wege stehe, um sich zu werfen. Wenn alles bleiben soll, wie es ist, dann muss sich alles ändern.

Dies müsste die Stunde der liberalen Sozialdemokratie sein; die Stunde großer Reformen in ganz Europa. Stattdessen wird die Krise von einem Zentralbanker mit der Druckerpresse gemanagt, von einer Kanzlerin ohne Visionen verwaltet, von der arbeitslosen Jugend in den Staaten des Südens ausgebadet und von Populisten in ganz Europa ausgebeutet. Brüssel ist nicht Weimar. Dennoch lohnt sich der Blick zurück auf 1933. In Deutschland siegte das Ressentiment, in den USA begann mit Franklin D. Roosevelt eine Ära der Reformen, angeführt von der Elite. Europa braucht einen New Deal. Wo aber sind die Roosevelts? (Alan Posener, 2.1.2017)