Jacques Palminger und Lieven Brunckhorst: "Goldberg für alle!"

Foto: Kerstin Behrendt

Wien – Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen zählen dank ihres hohen melodischen Sättigungsgrads zweifellos zu den großen globalen und tausendfach interpretierten Klassikern. Vor allem auch, weil es speziell allein am Klavier nie langweilig wird, wenn zwecks Fehlervermeidung bei Melodie und Unterstimme, die rechte Hand besser nicht weiß, was die linke tut.

Es gibt von den Goldberg-Variationen Jazz-, A-cappella-, Glasharfen- und Blasmusikversionen. Es existieren davon Deutungen singender Buckelwale. Der aus Rastatt bei Baden-Baden stammende Gitarrengott Ricky King nahm sich dieser Spitzenleistung deutscher Tonsetzkunst 1976 an. Die legendäre Garmisch-Partenkirchener Auslegung von Jodlerkönig Franzl Lang allerdings ist vergriffen. Dieter Bohlen findet Bachs Lieder leider schon immer kacke. Helene Fischer ist derzeit aber wegen eines für den Frühsommer geplanten Unplugged-Albums dran.

Im Zweifel kann man die Goldberg-Variationen wegen ihrer starken öffentlichen Präsenz (Stichwort: Eduscho-Klassik!) auch auf Tankstellen kaufen. Wer viel Tagesfreizeit hat, kann sich bei Amazon auf gezählten 132 Seiten seine Lieblingsvariation aussuchen.

Psychedelische Butterfahrt

Der Hamburger Humorist, Musiker und Schauspieler Jacques Palminger hat sich gemeinsam mit dem vom Jazz kommenden Multiinstrumentalisten Lieven Brunckhorst in seinem Programm Goldberg für alle! dafür entschieden, die Goldberg-Variationen als psychedelische Butterfahrt zu gestalten. Im Stile eines zart ins Sektenwesen kippenden New-Age-Seminars für vom Ausbrennen bedrohte Privatangestellte sollen die Goldberg-Variationen vor allem auch als Anleitung dienen, endlich wieder einmal ein- und durchschlafen zu können.

Speziell in unserer heutigen Zeit, in der die Challenges, ständig verfügbar und erreichbar sowie nervlich wie emotional belastbar zu sein, als absolut unabdingbare Skills im Berufsleben gelten, ist der Schlaf natürlich eines: Der Schlaf geht uns alle an.

Palminger, dem Mitbegründer des gemeinsam mit Rocko Schamoni und Heinz Strunk mittlerweile vor allem über die Fake-Band Fraktus betriebenen Radikalhumor-Trios Studio Braun, gelingt die für das Einschlafen notwendige Befreiung von belastenden Gedanken aus dem Alltag mit einfach gute Gefühle hervorrufenden Sätzen: "Der Tag versinkt in den Ganglien", heißt es an einer Stelle. "Ihr seid komprimiertes Sonnenlicht", an einer anderen.

"Die Angst ist in ihrem Inneren hohl"

Bei der Österreichpremiere von Goldberg für alle! im Wiener Schauspielhaus wird also im Sinne einer "mentalpositivistischen Gruppenhypnose" der kognitive Handapparat mit lyrischem Ballaballa örtlich betäubt und dann mit schöner Musik über die Behelfsbrücke der radikalen Entschleunigung somatisiert. Die alten Bachschen Gassenhauerumkreisungen der leitmotivischen Aria werden mit Saxofon, Querflöte, Gitarre, Klavier und elektronischen Walgesängen aus dem Mischpult tempomäßig heruntergedimmt. Jacques Palminger gibt den auch für Menschen, die etwas länger brauchen, verständlich in Zeitlupe vortragenden Ballaballa-Guru: "Die Angst ist in ihrem Inneren hohl – und nichts umgibt sie. Wow." Oder auch: "Jeder Ton ist Poesie, jedes Wort ist Jazz."

Nach 45 Minuten legen sich die beiden Künstler für einen Power-Nap aufs Ohr. Die zweite Hälfte wird in nachgerade erotisch die Hühnerbrüste und Froschbeine betonenden Einteilern aus dem Hause Kermit bestritten. Warum? Eben.

Textlich geht es jetzt anhand von Fingernagelmaniküre, der tragischen, aber ins Gute gewendeten Geschichte eines von Ebay zerbrochen gelieferten Beagles aus Porzellan und des von Palminger genüsslich imaginierten Bühnentodes seines musikalischen Begleiters Lieven Brunckhorst durch ein auf die Bühne abstürzendes Flugzeug ("Schade!") endgültig an unsere innere Grenzen: "Wir müssen von ganzem Herzen alles, was uns trifft, willkommen heißen."

Während sich nun der Kreis mit der Aria aus einer handgeleierten Spieldose schließt, hat man eine Gewissheit. Aus diesem vielleicht zauberhaftesten Abend des bisherigen Jahres nimmt man mindestens eine wohlige geistige Ermattung mit nach Hause. (Christian Schachinger, 21.1.2017)