Raufende junge Männer personifizieren in Alain Platels Stück die gesellschaftlichen Verwerfungen vor dem Ersten Weltkrieg.

Foto: Chris Van der Burght

Wien – Bis zum komischen Schluss scheint unklar, ob das Tanzstück nicht schlafen des renommierten belgischen Choreografen Alain Platel ein Meisterwerk oder künstlerischer Altstoff ist. Am Donnerstag und Freitag konnte sich das Publikum im Volkstheater auf Einladung des Tanzquartiers Wien ein Bild davon machen, wie der 57-jährige Bach-Enthusiast zur Musik von Mahler einen "taumelnden Kontinent" skizziert.

Gemeint ist, mit Bezügen zu Philipp Bloms so betiteltem Buch, ein Europa vor dem Ersten Weltkrieg, das Platel jedoch in die Gegenwart projiziert. Acht Männer und eine Frau treten zu Beginn des Stücks andächtig vor drei ausgestopfte Pferdekadaver, ein Werk der belgischen Künstlerin Berlinde De Bruyckere: Der tote Gaul als Symbol des Leidens der unterjochten Kreatur unter dem menschlichen Drang zur Mobilität. Aber auch als Zeichen der Wende hin zum Maschinenzeitalter, in dem das Pferd als sein eigenes PS, also Postskriptum, unter blechernen Motorhauben eingesargt wurde.

Zerreißproben gesellschaftlicher Umbrüche

Sobald im Stück die Gruppe mit nur einer einzigen Frau sich von diesem Memento mori abgewandt hat, scheint sie angeregt. Die neun Leute fallen übereinander her, raufen und zerfetzen sich dabei gegenseitig die Kleidung. Von diesem Moment an sind sie mehr als eine Stunde lang damit beschäftigt, einander fertigzumachen und danach wieder einerseits zu sich und andererseits zueinander zu finden.

Es ist eine seltsame Gesellschaft aus jungen, durchtrainierten Körpern – ganz so, als ob Alain Platel die Zerreißproben zweier gesellschaftlicher Umbrüche, jenem vor dem folgenschweren Ersten Weltkrieg und dem von heute, auf eine Generation spiegeln wollte. Das Fehlen älterer Performer wirkt erst einmal unterkomplex. Sind nur die Jungen Auslöser und Träger von großen Krisen? Wo doch in Wirklichkeit der Erste Weltkrieg ein Altherrendesaster war. Allerdings eines, das von jungen Männern mit großem Hurra auszuführen begonnen wurde.

Kein klarer Genderdiskurs

Die Männermehrheit bei nicht schlafen trifft die Wirklichkeit besser, denn bekanntlich wurden alle menschengemachten Katastrophen von Männern ausgelöst. Auf einen klaren Genderdiskurs lässt sich Platel allerdings nicht ein, genauso wenig wie auf eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Kolonialismuskritik, denn das Stück ist auf einen anderen gesellschaftlichen Aspekt gerichtet.

Ständig versucht die Tänzergruppe, sich zu organisieren. Passagenweise wird synchron getanzt, doch jedes Miteinander zerfällt bald wieder. Allerdings immer nur so weit, dass eine völlige Lähmung der sozialen Dynamik gerade noch ausbleibt. Daraus hätte sehr leicht eine jener Szenenaufreihungen werden können, mit denen schwache Choreografinnen und Choreografen ihre Arbeiten gerne ruinieren, wenn sie sich nicht an konkreten Geschichten orientieren.

Bei Alain Platel ist das anders. Er zeigt hier die Fähigkeit, im Theater ein Zeitfeld aufzubauen, von dem soziale Zustände und politische Entwicklungen ablesbar werden. Die Dramaturgie des Planlosen – dessen absurder Zerfahrenheit, der Vergeblichkeit blinder Ambitionen oder passiver Verstocktheit und einer rastlosen Stasis – macht in nicht schlafen den Schrott des Sozialen zum sehr aktuellen Thema einer großen Arbeit. (Helmut Ploebst, 21.1.2017)