Ein Trip durch divergente Zustände der menschlichen Zivilisation: "Kaspar Hauser" im Schauspielhaus Wien.

Foto: Matthias Heschl

Wien – Das Wiener Schauspielhaus pulsiert. Hier ist eine junge Generation von Theatermachern am Werk, die ganz eigene, rohe, popaffine Regiepositionen in die Waagschale wirft. Man blickt auf ungewöhnliche szenische Behauptungen, die einigermaßen verblüffen, auch wenn die Abende nicht immer zu Gänze überzeugen. Auch das jüngste Kaspar Hauser-Stück mit dem Untertitel Oder die Ausgestoßenen könnten jeden Augenblick angreifen! hätte noch Straffung und dramaturgische Beratung vertragen, zumal hier Lisa Lie ziemlich frei und sagen wir: schräg dahinfantasiert.

Die norwegische Regisseurin, Autorin und Performerin – mit vollem Namen heißt sie Lisa Charlotte Baudouin Lie – schöpfte, nachdem es ihr vom Verlag untersagt wurde, Peter Handkes Kaspar-Stück mit zusätzlichen Texten zu versehen, ganz frei aus dem Kaspar-Hauser-Topos. Sie lässt die Mutter, die sich zur Kindesweglegung entschieden hat, über nichts weniger als die zivilisatorischen Stufen des menschheitsgeschichtlichen Zusammenlebens sinnieren.

Plastikverschweißte Feldgurke

Ihr rätselhaftes Stück beginnt also bei einem riesigen, Unterschlupf gewährenden Wurzelstock zur Zeit der Neandertaler, als Herr und Knecht sich erst herausbilden mussten, und derjenige der Dümmste und sexuell am meisten Ausgebeutete ist, der nicht einmal weiß, wie man eine plastikverschweißte Feldgurke adäquat verspeist. So lässt sich zumindest ein Teil des Plots zusammenfassen.

Wie heterogen und eigen die Arbeiten der 36-jährigen Theatermacherin sind, zeigte ihre Arbeit Blue Motell, ein Crossover-Stück zwischen schamanistischer Initiation und europäischer Bildungsreise, das Lisa Lie im November 2015 auf dem Kampnagel Hamburg präsentierte. Bisher ist die in Norwegen Gefeierte hier aber noch kaum bekannt. Kaspar Hauser (Deutsch: Alexander Sitzmann) ist ihre erste Inszenierung im deutschen Sprachraum.

Gespräch über Kunst

Der knapp zweistündige Abend ist wie eine Zwiebel, die immer wieder neue Zivilisationsschichten freilegt: Haarige Menschen mit Pavianhintern umklettern den knorrigen, weiß getünchten Wurzelstock und entnehmen aus ihm jenen Lehm, mit dem sie ihre Kultur weiterentwickeln werden. Und flugs kneten sie Teetässchen, schlagen ihre Beine übereinander und führen als George und Gladys ein gepflegtes Gespräch über Kunst. Dazu spielt es Swizz Beatz' She ain't got no money in the bank.

Apropos Kunst: "Wir können es anschauen und darüber nachdenken", sagte eine, die gerade die Höhlenmalerei erfunden hat. Sie entledigen sich bald darauf ihrer Fellkleidung und entdecken die grazile Kunst der Bewegung (wie Ballett). Doch selbst die feine Ausdrucksweise mit gespitzten Zehen lässt sie nicht davor zurückschrecken, einander wehzutun, einander sogar blutig zu schlagen.

Man rätselt und staunt

Mit Kaspar Hauser hat diese Welt nur indirekt zu tun. Sie zeigt das Kreatürliche des Menschseins und seine nicht immer abgesicherten humanen Instinkte. Vassilissa Reznikoff, Jesse Inman, Gabriel Zschache und Kenneth Homstad werfen sich als tanzende, turnende, gestikulierende und zuweilen radebrechend sprechende Schauspieler ins Zeug.

In diesen steilen Behauptungen liegt deshalb viel Spannung, weil die märchenhaften Bilder ihre Bedeutungen nicht sofort preisgeben. Man rätselt und staunt. Mehr Stringenz hätte aber gutgetan. (Margarete Affenzeller, 2.2.2017)