Die 14-jährige Hedwig (brillant: Maresi Riegner) bahnt sich ihren Weg durch Ibsens Haus der Lebenslüge: ein Stück für Stiege und Ensemble, ein wunderlicher Traum.

Foto: Astrid Knie

Wien – Ausgerechnet die Titelheldin in Henrik Ibsens Die Wildente fristet ihr Dasein in völliger Diskretion. Sie lebt ein Leben in Gefangenschaft und teilt sich den Dachboden des Fotografen Hjalmar Ekdal mit allerlei nützlichem Kleinvieh, Hühnern und Kaninchen. In diesem kuriosen Verschlag pflegt Hjalmars Trinkervater, ein verlotterter Ex-Sträfling, auf die Pirsch zu gehen. Das Geld für die Butter? Müssen sich Ekdals vom Munde absparen. Der Wildente hingegen, dem Liebling der frühreifen Tochter Hedwig, darf es an nichts fehlen.

So verkehrt sind die Proportionen in Ibsens Haus der Lebenslüge. Die Ente, Ibsens Symboltier, sieht man nicht. Im Wiener Josefstadt-Theater führt hingegen eine lange Stiege vom Fußpunkt unten schräg nach rechts hinauf zu Ekdals Fotoatelier (Ausstattung: Raimund Orfeo Voigt).

JosefstadtTheater

Regisseurin Mateja Koležnik hat aus Ibsens sorgfältiger Verhandlung von Moral und deren unmöglicher Nutzanwendung einen Treppenwitz gemacht. Unermüdlich jagen die Schauspieler die steile Stiege hinauf und hinunter. Eine Leiter verbindet diese Hysteriker mit dem Entenpark im Oberstübchen. Ibsens Dialoge werden zumeist in die Bärte genuschelt. Wer das Stück nicht erst unlängst gelesen hat, der sieht sich um die Exposition (erster Akt) geprellt und muss sich mancherlei selbst zusammenreimen.

Ist die erste Überraschung gewichen, stellt sich prompt die zweite ein. Kolezniks Konzept funktioniert über die Maßen prächtig. Hedwig (Maresi Riegner) nutzt das Stiegenhaus als Horchposten: eine frühreife Göre, die aus der Deckung der Kaminsäule heraus das Treiben der Erwachsenen bass erstaunt verfolgt. Der vom Untermieter ein Radio zugesteckt wird, das sie hinter der Ofentür versteckt. Dialogfetzen fliegen ihr um die Ohren. Ihre ganze Liebe gehört der Tanzmusik, und in Momenten der Traumstimmung sieht sie Paare am Dachboden schwofen.

Zwei Glutzentren

Besuchern wie dem Tugendschwätzer Gregers Werle (Raphael von Bargen) begegnet Hedwig mit der Befangenheit des Backfisches, der um den eigenen erotischen Anwert noch nicht Bescheid weiß. Das zweite Glutzentrum der Aufführung wird von ihrer Mutter gebildet. Gina Ekdal (Gerti Drassl) kompensiert das Unglück ihrer Ehe mit ausgiebigen Waschungen des Treppensturzes.

Die Welt der Erwachsenen bildet für Hedwig ein einziges Rätsel. Die Männer tragen Perücke: Brüder des Barbie-Puppengespielen Ken. Und wenn der Versager Hjalmar (Roman Schmelzer) gerade nicht über seine hell leuchtende Zukunft als Erfinder schwadroniert, dann ächzt Opa (Siegfried Walther) die Leiter hoch.

Eine Stunde zwanzig Minuten

Eine Stunde zwanzig Minuten währt dieses doppelte Komplott der Erwachsenen gegen ein unschuldiges Kind und eine wehrlose Wildente. Wie ein Robespierre der Stiegenhäuser nötigt Gregers seinen Vermieter Hjalmar zur Preisgabe der liebgewonnenen Lebenslügen. Das Geld für Ekdals elende Menage stammt vom alten Werle; noch nicht einmal Hedwig ist Hjalmars Lenden entsprossen.

Die entscheidenden Schritte in den Abgrund sieht man nicht. Der Schuss, mit dem Hedwig sich selbst statt der Wildente tötet, fällt im Off. Man zerrt die Kleine wie Gerümpel vom Dachboden herunter. Die letzten Augenblicke gehören Drassl, die auf Knien die Stufen schrubbt und wie ein Tier um ihr Kind schreit. Eine unerhörte Aufführung, deren Radikalität dem Josefstädter Hause wohl tut. (Ronald Pohl, 5.5.2017)