Jan Fabre blättert im performativen Bilderbuch, um den Genius Belgiens in seiner ganzen zwiespältigen Pracht zu erweisen.


Foto: Wonge Bergmann

Wien – Als die Oper Die Stumme oder Untreue und edle Rache von Daniel-François-Esprit Auber in der Bearbeitung von Margarethe Bernbrunn 1829 im Wiener Theater an der Josefstadt gezeigt wurde, ahnte noch niemand, dass die Brüsseler Aufführung im Jahr darauf zu einer Revolution führen würde. Der Staat Belgien wurde in einem Theater geboren, und der belgische Künster Jan Fabre feiert dieses Ereignis jetzt mit der Uraufführung seines jüngsten Stücks Belgian Rules / Belgium Rules bei Impulstanz im Volkstheater.

In dreieinhalb deftigen Stunden heizt Fabre seine zum Bersten gefüllte Bilderbühne an. Am Ende quittierte das Wiener Premierenpublikum am Dienstag dieses Volksschauspiel mit stehendem Applaus. Nicht ohne Grund, denn da wurde etwas zusammengebraut, das dem Selbstverständnis der miteinander zerstrittenen Belgier besser auf die Sprünge helfen könnte als jede staatliche Versöhnungsdidaktik.

Belgian Rules / Belgium Rules ist eine ausgesprochen raffinierte Mischung aus Provokation und Leistungsschau. Jan Fabre, dessen Ausstellung Stigmata gerade im Leopold-Museum zu sehen ist, zieht hier alle seine Register als bildender Künstler, Regisseur, Autor und Choreograf und richtet sie auf ein Ziel: Versöhnung.

Der 58-jährige Flame rekonstruiert die belgische Geschichte in einem kunsthistorischen Bogen von Jan van Eyck (1390–1441) über Pieter Bruegel dem Älteren und Peter Paul Rubens bis hin zu Künstlern wie Félicien Rops, Fernand Khnopff, James Ensor, Paul Delvaux und René Magritte. Und über Karnevalstänze wie die der Gilles de Binche, der Blancs Moussis de Stavelot, der blauen Majoretten oder der Haguettes de Malmedy.

Reichlich zum Einsatz kommt der belgische Zaubertrank – das Bier. Allen voran natürlich Duvel, bei dem die Nüchternheit so schnell zum Teufel geht wie in Österreich beim Bockbier. Aus dem Gerstensaft erhebt sich auch das satirische Regelwerk, das Jan Fabre seine zu allem bereiten Tänzerinnen und Tänzer ausrufen lässt. Was zum Beispiel nicht geht: Katzen von Türmen werfen, auf dem Friedhof picknicken und sein Schwein Leopold taufen. Was Pflicht ist: Katzen von Türmen zu werfen, den "Arsch der Königin einmal im Jahr zu küssen" oder zu seufzen, wenn man etwas gefragt wird. Möglich wäre etwa: nicht zynisch sein, an Europa glauben, eine Zigarette genießen. Die Absurdität von Verboten und Pflichten und die Erwägung von Zukömmlichem ist eine Seite, die Jan Fabre nur ungern vorzeigt: Hier appelliert er tatsächlich an die Vernunft.

Igel und Taube

Die Katzenschmeißerei ist eine Anspielung auf Angriffe von Tierschützern auf seine Person. Die Symbolik von Tieren spielt auch in Belgian Rules / Belgium Rules eine große Rolle: der glückbringende Igel als Erzähler und die Taube als Botschafterin des Guten. Das Theater müsse frei bleiben von kontrollierender Vernunft, ruft der Igel, denn was man auf der Bühne sehe, sei eben nicht, was man sieht. Mit Magritte verdeutlicht heißt das: Eine gemalte Pfeife ist keine richtige Pfeife.

Zum Beispiel ist Rassimus anprangerndes Blackfacing wie hier nicht gleichzusetzen mit den schwarzgemalten Gesichtern der Minstrel-Shows von früher. Mit dem belgischen König Leopold II. aber, der den afrikanischen Kongo unterwarf und die einheimische Bevölkerung zu Millionen massakrieren ließ, könnte in dem Stück schärfer verfahren werden. Dieses historische Verbrechen ist ein katastrophaler Punkt in Belgiens Geschichte. Daher wirkt Fabres Attacke darauf in seiner Heimat vielleicht gepfefferter als in Wien.

Nützlich für das Publikum ist übrigens das Programmheft, in dem die 14 Kapitel dieses dicken performativen Bilderbuchs dokumentiert sind. (Helmut Ploebst, 19.7.2017)