Germaine Acogny aus Senegal präsentierte beim Wiener "Impulstanz"-Festival ihr Stück "Somewhere at the Beginning".


Foto: Thomas Dorn

Wien – Welche Fiktionen treiben die 73-jährige Choreografin Germaine Acogny aus Senegal an, und mit welchen Mythen arbeiten die beiden jungen Briten mit afrikanischen Wurzeln, Rachael Young und Dwayne Antony? Das Impulstanz-Festival ermöglicht den Vergleich mit Acognys Solostück Somewhere at the Beginning, das gerade im Akademietheater zu sehen war, und mit dem Duett Out von Young/Antony im Kasino am Schwarzenbergplatz.

Die zwei Londoner könnten Enkel der Senegalesin sein. Young erzählt, sie habe als Jugendliche Reggae und Dancehall gehört und bei Familienfesten zu Beres Hammond und Buju Banton getanzt: "Wie die meisten jungen Leute begann ich die Liedtexte zu singen, ohne deren Bedeutung zu verstehen." Germaine Acognys Vater war Funktionär der französischen Kolonialverwaltung in Dakar, der die Geschichten seiner Mutter, einer Yoruba-Priesterin, als Buch (Les récits d'Aloopho) publiziert hat. In den 1960ern ging Acogny nach Paris, um dort Tanz zu studieren. Mitte der Neunziger siedelte sie zurück nach Dakar. Dort gründete sie ihre eigene Company und Tanzschule.

Somewhere at the Beginning ist Acognys Versuch, ihre eigene Prägung durch kulturelle Fiktionen fürs Publikum nachvollziehbar zu machen. Zum einen stellt sie sich als Reinkarnation ihrer Großmutter Aloopho vor – und zugleich nimmt sie in ihrem Stück die Metapher der Medea auf, um die Kulturen der Yoruba und der griechischen Antike miteinander zu verschränken. Zusammen mit dem Regisseur Mikaël Serre und dem Videokünstler Sébastien Dupouey hat sie in einem Bühnenset von Maciej Fiszer eine Arbeit entwickelt, in der Musik (Fabrice Bouillon), Projektion und Performance den Furor ihrer kulturellen Prägungen erfahrbar werden lässt.

Eine ähnliche Wut tragen auch Rachael Young und Dwayne Antony in sich, deren kulturelles Erbe in einem von Popnarrativen geprägten Umfeld verstreut liegt. Ihre Identitätssuche ist zeitgemäß von Genderideologien beeinflusst und sexuell aufgeladen. Im Vergleich mit Acognys überaus komplexem und bis ins Feinste ausgearbeitetem Stück wirkt ihre Performance wie eine konstruktivistisch reduzierte Oberfläche, in die grob ein paar vordergründige Zeichenkombinationen eingehämmert sind: Ekstase, Identität, Rassismus, Exotismus, Schwulen- und Lesbenhass. Rufzeichen. Basta.

Das Reich aus Dreck

Das Ausloten der tiefen Gräben unter diesen performativen Hieroglyphen überlassen Young und Antony dem Publikum. Das weiß ohnehin, was in den Abgründen wabert, und soll sich dessen Komplexität selbst vor Augen führen. Wer das nicht kann, bleibt entweder "out" oder hat beispielsweise zuvor bei Germaine Acogny die komplizierten Strukturen der Auswirkungen des Kolonialismus zu spüren bekommen. Dafür bringt Acogny auch Johnny Cashs späte Verletzungen ins Spiel: "You could have it all / My empire of dirt / I will let you down / I will make you hurt." Sie zitiert ihren Vater mit der schlichten Erkenntnis, dass sich alle Probleme zwischen verschiedenen Kulturen auflösen werden, sobald die Menschen gelernt haben, einander in ihrer Unterschiedlichkeit zu akzeptieren.

Hier ist der Westen das Reich aus Dreck, aus dessen medialen Fenstern der Blick in die Welten der anderen wie ein Film abläuft, in den Acogny eingreift. Sébastien Dupouey projiziert seine symbolisch aufgeladenen Bilder auf zwei hintereinanderliegende Vorhänge aus Schnüren. Auf Cashs Hurt reagiert die Tänzerin als Medea: "Wir sind alle Kannibalen." Ob's uns nun schmeckt oder nicht. (Helmut Ploebst, 3.8.2017)