Hat Christian Kern doch eine Chance, Kanzler zu bleiben? Der SPÖ-Chef will sich anhören, was die Blauen zu bieten haben.

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Eine Festlegung auf die Opposition? Michael Schickhofer hat eine solche nie vernommen. Zwar ist auch dem steirischen SP-Chef nicht entgangen, dass Christian Kern Anfang September angekündigt hat: Verliere die SPÖ Platz eins, werde er sie in Opposition führen. Doch als fixe Ankündigung habe er das nie verstanden, sagt Schickhofer, sondern als Analyse, "welches Szenario das wahrscheinlichste ist."

Die Mehrheit der sozialdemokratischen Spitzenpolitiker, die am Montagmorgen das Ausweichquartier des Parlaments betraten, sieht das ganz ähnlich. Am Vortag hat die SPÖ Platz eins in der Wählergunst verloren, doch die Kanzlerschaft will sie deshalb noch lange nicht voreilig aufgeben. Nach vierstündigen Beratungen beschlossen Präsidium und Vorstand, mit allen infrage kommenden Parteien über eine etwaige Koalition zu reden. Das heißt: Auch Rot-Blau ist eine Option.

Am Montagabend gaben die Hochrechner bekannt, dass in diesem Fall die Reihenfolge tatsächlich Rot-Blau und nicht Blau-Rot sein würde: Denn nach Auszählung einer guten Tranche der Wahlkarten verblieben beide Parteien zwar bei den am Sonntag prognostizierten Werten – 26,9 Prozent für die Sozialdemokraten, 26 Prozent für die Freiheitlichen –, die Schwankungsbreite aber verringerte sich von 0,7 auf 0,4 Prozentpunkte. Damit wird die FPÖ die SPÖ nicht mehr vom zweiten Platz stoßen können.

"Wir wollen keine Tür zuschlagen", sagt Kern: Sollte die SPÖ eine entsprechende Einladung ereilen, "dann werden wir für Gespräche zur Verfügung stehen". Ob daraus mehr werden könne, lasse sich erst anhand der erzielten Ergebnisse beurteilen: Genau für diesen Fall habe sich die SPÖ ja vor Monaten ihren Kriterienkatalog – vulgo "Wertekompass" – als Orientierungshilfe zugelegt.

Kern hat damit durchgesetzt, worauf er sich bereits vor der Sitzung festgelegt hatte – untermauert mit einem Seitenhieb: "Zurufe von links oder rechts werden wir getrost ignorieren."

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Wen Kern damit meint, liegt auf der Hand. Schon vor dem Wahltag hatte der Obmann versucht, die roten Landesparteien auf seine Linie einzuschwören, doch nicht jede hielt sich daran. Rot-Blau sei "kein Thema, jedenfalls nicht für mich", legte sich Wiens SP-Chef Michael Häupl noch am Wahlabend fest: "Lassen wir das."

Einstimmig, aber nicht einhellig

Der scheidende Bürgermeister und seine Mitstreiterin Renate Brauner sollen in der Präsidiumssitzung dann auch ihrem Unmut Luft gemacht haben – nicht als einzige, erzählen Teilnehmer. Von breiter Skepsis ist die Rede, Vertreter von Vorfeldorganisationen hätten die von Kern vorgegebene Linie ebenso hinterfragt wie Genossen aus Tirol und Vorarlberg. Tenor: Viele Wechselwähler hätten sich deshalb für die SPÖ entschieden, weil es die Grenze zur FPÖ gebe – diese dürfe man nun nicht vor den Kopf stoßen.

Offiziell nennt Häupl die Berichte über den Disput allerdings eine "völlige Fehlinformation" und verweist auf das finale Votum der Führungsgremien: Das Präsidium hat einstimmig den Sanktus für Gespräche mit den anderen Parteien erteilt, im größeren Vorstand stimmten nur die drei Jugendvertreter nicht mit.

"Auch ich habe keine Bedenken, Gespräche zu führen", sagt Häupl, fügt aber an, dass dies nichts an seiner Haltung gegen eine rot-blaue Koalition ändere: "Das ist nicht mein Pläsier, das ist seit 23 Jahren bekannt." Das Vorarlberger Vorstandsmitglied Gabriele Sprickler-Falschlunger deponiert ebenfalls ein Ja zu Gesprächen, aber große Vorbehalte gegen eine Koalition: "Die Wahl zwischen ÖVP und FPÖ ist so wie die zwischen Pest und Cholera."

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Die Rot-Blau-Gegner in der Partei fühlen sich seit dem Wahlsonntag bestätigt. Schließlich hätten die Wähler eine klare Präferenz gezeigt: Während die SPÖ in der Hauptstadt mit einem Plus von drei Prozent überdurchschnittlich zulegte, verlor sie im von einer rot-blauen Landesregierung geführten Burgenland so stark wie in keinem anderen Bundesland (minus vier Prozent). "Diese Wahl war ein Elchtest", sagt ein Genosse aus der Wiener Partei, die allerdings gespalten ist.

Zusätzliches Argument: Bei der nächsten Gemeinderatswahl könne der Bürgermeisterpartei gar nichts Besseres passieren als eine schwarz-blaue Bundesregierung als Reibebaum. 2001 eroberte die SPÖ in genau dieser Konstellation sogar die absolute Mehrheit.

Die Burgenländer interpretieren das Wahlergebnis naturgemäß anders. "Ich gratuliere den Wienern", sagt Landeshauptmann Hans Niessl im STANDARD-Gespräch, führt den Erfolg aber in erster Linie auf die Erosion der Grünen zurück. Die burgenländische SP habe da keinen kleineren Wähleranteil abgeschöpft als die Wiener, "doch bei uns gibt es halt viel weniger Grüne". Mit einem anderen Kurs als dem seinen, glaubt Niessl, wäre die SPÖ sicher viel schlechter gelegen.

Zerreißprobe könnte erspart bleiben

Gespalten ist in der Rot-Blau- Frage nicht nur die SPÖ selbst, sondern auch die mit ihr verbandelte Arbeitnehmervertretung. ÖGB-Boss Erich Foglar gilt als aufgeschlossen, die Gewerkschaft der Privatangestellten unter dem sozialdemokratischen Chefgewerkschafter Wolfgang Katzian hingegen als Hort der Gegner. Das jahrzehntelange Lieblingsmodell der Sozialpartner, die große Koalition aus SPÖ und ÖVP, ist theoretisch zwar auch möglich, aber unwahrscheinlich – schon deshalb, weil Wahlsieger Sebastian Kurz diese Variante scheuen dürfte.

Droht also eine Zerreißprobe? Möglicherweise kommt die SPÖ gar nicht in die Verlegenheit. Viele hohe Sozialdemokraten gehen davon aus, dass die schwarz-blaue Koalition auf Schiene ist; allenfalls werde die FPÖ ihren Preis in die Höhe treiben, indem sie auf die SPÖ als vermeintliche Alternative verweist. De facto seien das schwarze und das blaue Programm "fast wortident", sagt Kern, den die SP-Granden als Chef bestätigten: "Bleiben wir realistisch."

Die Aussicht, dass eh keine Koalition rauskommt, spreche erst recht gegen Koalitionsgespräche, ärgert sich einer der Skeptiker: "Wir legen unsere Karten auf den Tisch – und sind am Ende die Gelackmeierten." (Gerald John, 16.10.2017)