Vor die Säue geworfen: Der rheinische Industriellensohn Julian (Philip Dechamps) in nicht-faschistischer Gesellschaft.

Foto: Matthias Horn

Wien – Unter den unsterblichen Werken Pier Paolo Pasolinis (1922-1975) zählen seine Theaterstücke seit jeher zu den problematischen. In ihnen nimmt es der heimatlos gebliebene linke Dichter und Filmemacher, furchtlos wie eh und je zu gleicher Zeit mit mehreren übermächtigen Gegnern auf.

In Pasolinis Theater des permanenten Widerspruchs überlagern einander die Bedeutungen bis zur Unkenntlichkeit. Die kultische Grundlage der Tragödie kommt der Sozialkritik in die Quere. Die Figuren tragen Papier auf der Zunge, müssen aber auch unhandliche Symbollasten schultern. Die jeweilige Fabel? Erstickt an einem Zuviel an abstrakter Argumentation. Wobei das unbehagliche Industriellenstück Der Schweinestall (1967) eine löbliche Ausnahme bildet. In ihm bekommen tatsächlich mehrere brave Hausschweine Auslauf. Der gezähmten Natur wird Sitz und Quiekstimme im Theater eingeräumt.

Im Meidlinger Werk X hat man drei Borstentiere jetzt aus München importiert. Das Residenztheater gastiert mit Ivica Buljans balladenhafter Inszenierung von Der Schweinestall im ehemaligen Kabelwerk. Und man muss sich die drei mitwirkenden Jungsäue als die pflegeleichtesten und charmantesten Darstellungskünstlerinnen vorstellen, die man an Wiener Mittelbühnen seit langem beobachten durfte.

Ihr deutscher Freund heißt Julian (Philip Dechamps) und ist rheinischer Industriellensohn. Sein Papa symbolisiert die Kontinuität der NS-hörigen Schwerindustrie, die ohne nennenswerte Änderung der Produktpalette auch in der Wirtschaftswunderära munter obenauf ist.

Julian reagiert auf das schmerzliche Bewusstsein gesellschaftlichen Unrechts mit der sanftesten Form der Totalverweigerung. Er möchte mit Freundin Ida (Genija Rykova) nicht schlafen, und er fällt in kataleptische Phasen. Erst durch die Erzählung von Papas schlimmstem Konkurrenten, dem Nazi-Verbrecher Herdhitze (sic!), wird offenbar, dass der widerspenstige Jüngling den Schweinen im Koben zärtlich zugetan ist.

Julian, der in seiner Vorstellung mit dem Philosophen Spinoza (Sibylle Canonica) Argumente austauscht, verkommt zum Märtyrer ohne Heilsbotschaft. Dechamps mengt sich tatsächlich auf allen Vieren unter das Borstenvieh, das ihn hüpfend und mit freundlichen Aufforderungen zum Spielen piesackt. Die verkommene Gesellschaft rund um ihn spielt dazu einen verschleppten Slow-Blues an Bass, Drums, Keyboards und Leadgitarre, und die herrliche Juliane Köhler könnte auch in einem Luchino-Visconti-Seminar zur Schule gegangen sein (Neigungsgruppe: Die Verdammten).

Zu schlechter Letzt verzehren die Schweine Julian bis auf das kleinste Knöchelchen. Ein aufgeregter Bote berichtet vom Opfertod des Unangepassten. Buljans verwegene Pasolini-Entstaubung ist ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, ein gefundenes politisches Fressen, eine Art vorgezogener Festtagsbraten. Das fantastische Ensemble macht die linken Befunde zu Bestandteilen einer trostlosen Gegenwartskunde. Man tanzt den Foxtrott der politischen Unbedenklichkeit und wird Zeuge, wie sich die in einen Koben gesperrten Schweine suhlen. Ein famoser Abend von flackernder Eindringlichkeit. Das Werk X, Kooperationstheater des mächtigen Münchner "Resi", hat eindeutig Schwein gehabt. (Ronald Pohl, 22.12.2017)