Innsbruck – David Bowie war so beeindruckt von dieser Musik, dass er sie 2003 in die Liste seiner "Favorite Albums" aufnahm. In den späten 1970er-Jahren hatte er das Stück Music for 18 Musicians von Steve Reich live in Downtown New York erlebt, die Folge: The music floored me.

Beeindruckt genug, um mit dieser Musik eines ihrer Tanzkunstwerke zu bauen, war Anfang der Nullerjahre auch die belgische Starchoreografin Anne Teresa De Keersmaeker. Das Ergebnis mit dem Titel Rain wurde 2001 an der Brüsseler Oper La Monnaie uraufgeführt und 2016 anlässlich von Reichs 80. Geburtstag in neuer, junger Besetzung wiederaufgenommen.

Mit diesem frischen "Regen" hat das Osterfestival Tirol am Ostersonntag seine diesjährige Ausgabe ausklingen lassen. Auch ihre vielen Wiener Fans müssen nicht mehr lange auf De Keersmaeker warten: Kommenden Juli zeigt sie beim Wiener Festival Impulstanz eine Choreografie auf Johann Sebastian Bachs Cello Suiten – es spielt Star-Cellist Jean-Guihen Queyras.

Abstrakte Wirkung mit
literarischen Funken: "Rain".
Foto: Anne Van Aerschot

In Tirol gipfelte die ambitionierte Verschränkung von Alter und Neuer Musik sowie aktueller Performance und Choreografie des Osterfestivals in Rain. Noch am Ostersamstag war dort das gender-ästhetisch prickelnde Solo MDLSX der Gruppe Motus zu sehen gewesen, davor Radhouane El Meddebs überaus aktuelles Au temps où les Arabes dansaient ... und, gewissermaßen dazu passend, Gute Pässe Schlechte Pässe – Eine Grenzerfahrung der politisch engagierten deutschen Choreografin Helena Waldmann.

Warum passt zum Abschluss unter dem diesjährigen Festivalmotto "über.leben" ausgerechnet Anne Teresa De Keersmaekers Tanz mit Reich? Möglicherweise, weil De Keersmaekers auf den ersten Blick abstrakt wirkender Tanz zu minimalistischen Klängen einen literarischen Funken in sich trägt. Der Titel dieses Stücks ist einer gleichnamigen Novelle der neuseeländischen Schriftstellerin Kirsty Gunn aus dem Jahr 1994 entlehnt.

Fische in Klangflüssigkeit

Dieses wenig bekannte Detail lässt die Beziehung zwischen De Keersmaekers mit Atemtechniken verbundenem Tanz und der mit Atem operierenden Musik noch einmal unter einem etwas anderen Licht erscheinen. Denn Gunns Buch über die Auflösung einer Familie mündet im Stillstand des Atmens beim Ertrinken.

Vordergründig ist davon im Tanzstück auf der Bühne nichts zu spüren. Im Gegenteil: Die jungen Tänzerinnen und Tänzer scheinen sich in ihrem durch einen halbrunden Schnurvorhang begrenzten Raum wohlzufühlen wie Fische im Wasser. Getragen von Reichs "umwerfender" (Bowie) Klangflüssigkeit, navigieren sie geschickt in einem unaufhaltsamen Wirbel gegenseitigen Austauschs. Dabei folgen sie einer äußerst präzisen Choreografie.

Zu Recht stellt De Keersmaekers britischer Kollege Wayne McGregor fest, dass "abstrakter" Tanz eigentlich überhaupt nicht existiere. So enthält auch Rain durchaus narrative Elemente. Die sind allerdings von aller Textlogik abgekoppelt und entfalten sich in Gesten, Verläufen, Strukturen und Konstellationen – sozusagen als Hintergrundrauschen einer unerzählbaren Geschichte.

Verschrobene Wirklichkeiten

Tanz spricht jene Teile des Wahrnehmungssystems an, die auf die jeweiligen Umfelder von Worten reagieren, und führt uns künstlerisch verfremdete Verhaltensmuster in stilisierten Raum situationen vor. Anne Teresa De Keersmaeker ist eine Meisterin in der Herstellung solcher verschobener Wirklichkeiten. Dementsprechend planvoll schleichen sich in den von der Perfektion des Goldenen Schnitts gelenkten Ablauf von Rain dort und da Unregelmäßigkeiten, Ausreißer, Risse, sogar Ansätze von Konflikten ein.

Während die Farben von Tönen, Licht und Kostümen changieren, webt sich das soziale Muster – der Tanz – gnadenlos so lange weiter, bis das Ende der Musik es aufhält. Erst dann, in der Stille, lassen die Tänzer ihre Handlungsfäden fallen und klinken sich unsentimental aus. Das Innsbrucker Publikum war begeistert. (Helmut Ploebst, 2.4.2018)