Das Cloud Gate Dance Theatre aus Taipeh verschmilzt den charakteristischen Tanzstil der Peking-Oper mit koreanischen und japanischen Hoftänzen. Hier ein Bild aus dem Stück "Rice".

Foto: Liu Chen-Hsiang

St. Pölten – Für das politisch exponierte Taiwan ist sein Cloud Gate Dance Theatre ein Kulturschatz ersten Ranges. Zum 30. Jubiläum der 1973 in der Hauptstadt Taipeh gegründeten Company wurde ihm zu Ehren sogar ein Cloud Gate Day ausgerufen und eine Cloud-Gate-Straße eingeweiht. Wenn sich die Gruppe nicht auf Tournee befindet, bespielt sie daheim ihr eigenes, futuristisch designtes Gebäude, dessen Indoor-Theater und Freiluftbühne zusammen Platz für mehr als 1400 Besucher bieten.

Zurzeit ist die Tanzformation unterwegs und gastiert am Samstag mit ihrem Stück Rice (2013) im Festspielhaus St. Pölten.

"Absolut schockierend"

Company-Leiter Lin Hwai-min, Jahrgang 1947, gehört zu den weltweit meistgefeierten Choreografen. Anfangs studierte er – erst in Taipeh, dann in den USA – Literatur und Journalismus. Sein Roman Cicada, den Lin im Alter von 22 Jahren publizierte, wurde zu einem Bestseller. Aber bereits mit fünf Jahren war Lin aus Begeisterung für den Film The Red Shoes (1948) zum Tanz-Aficionado geworden.

Und neben dem Schreiben blieb das Tanzen für ihn weiterhin attraktiv. Sein Vater allerdings, ein Jurist in höheren politischen Funktionen, fand Lins Plan, Tänzer zu werden, "absolut schockierend".

Seine Tanzausbildung zog er trotzdem durch, unter anderem in den New Yorker Studios von Martha Graham und Merce Cunningham. Als er in die Heimat zurückkehrte, gründete Lin nur wenige Jahre nach seinem literarischen Erfolg die erste moderne Tanztruppe von Taiwan. Er benannte sie nach dem seit 5000 Jahren bekannten und damit ältesten chinesischen Tanz: Yunmen, zu Deutsch Wolkentor, auf Englisch Cloud Gate.

Zusammenführen von Traditionen

Wichtigstes Charakteristikum der Kompanie war von Beginn an das Zusammenführen von Tanztraditionen – aus der Peking-Oper respektive aus japanischen und koreanischen Hoftänzen – mit modernen westlichen Formen sowie einer speziellen Form des Tai-Chi.

Die frühen Stücke der Company lassen Lins Leidenschaft für Literatur noch deutlich erkennen: Heldengeschichten – wie Han Shih von 1974 – und Stoffe aus der Historie von Taiwan. Zum ersten Highlight des Cloud Gate Dance Theatre wurde 1979 Legacy, eine Geschichte über die Kolonisierung der Insel im 17. Jahrhundert durch Niederländer und Spanier. Taiwans Kolonialgeschichte hat Lin nie losgelassen. Das zeigt auch sein jüngstes Stück Formosa (2017), zu sehen nächste Woche in London, dann in Paris und Lissabon.

Zur Erinnerung: In Europa war Taiwan bis weit ins 20. Jahrhundert als Formosa bekannt, nach einer Bezeichnung portugiesischer Entdecker, die das Eiland nahe der südostchinesischen Küste im Jahr 1544 "Ilha Formosa" – "Schöne Insel" – tauften. Nach den Europäern setzten Festlandchinesen die Kolonisierung Taiwans fort, bevor Ende des 19. Jahrhunderts Japan die Macht übernahm. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fiel die Insel an die chinesischen Kuomintang, die das Land bis 1992 autoritär regierten.

Neustart in den Neunzigern

Für Cloud Gate waren die 1980er-Jahre wechselvoll: einerseits gekennzeichnet von künstlerischen Experimenten und zum anderen von einer temporären Schließung der Company – aus finanziellen Gründen und weil so gut wie alle ihre männlichen Tänzer zum Wehrdienst eingezogen wurden. Der große Neustart erfolgte 1991 in neuer, weniger erzählerischer, dafür aber meditativer und bildhafter Ästhetik.

Seitdem umgibt die Kompanie der Nimbus einer kulturellen Botschafterin nicht nur Taiwans, sondern des asiatischen Raums insgesamt.

Seine Vorrangstellung hebt das Cloud Gate Dance Theatre von der heute sehr lebendigen Tanzszene seines Landes ab. Doch Lin Hwai-min unterstützt auch den Nachwuchs: Bereits 1983 gründete er eine Tanzabteilung an der Universität von Taipeh, 1999 die Jungtänzergruppe Cloud Gate 2, und mit seinem Wanderer's Fund ermöglichte er Reisen lokaler Künstler im asiatischen Raum. (Helmut Ploebst, 3.5.2018)