Sébastien Cossette-Masse und Sacha Ouellette-Deguire in "Radical Vitality".


Foto: Sylvie-Ann Paré

Wien – Dieser Abend ist ein echtes Abenteuer. Unter dem Titel Radical Vitality schickt die kanadische Star-Choreografin Marie Chouinard (63) ihre zehn Tänzer auf eine Zeitreise durch die vier Jahrzehnte ihres bisherigen Schaffens. Ein Stakkato an Gefühlssprüngen, bis Samstag im Volkstheater zu sehen und sicher ein Höhepunkt des diesjährigen Impulstanz-Festivals.

Erotischer Grundton

Chouinard hat hier nicht einfach ein Potpourri aus Stückausschnitten in Form von Soli und Duetten kompiliert, sondern eine eigenständige Arbeit gesampelt. Diese zeigt erstens die wesentlichen Komponenten ihres bisherigen Schaffens: Witz, Virtuosität und Wahnsinn auf Basis eines erotischen Grundtons. Zweitens wuchern durch Radical Vitality die Neurosen der westlichen Kultur seit den 1970er-Jahren. Vielleicht wird das Netz unserer Neurosen hier gerade deshalb so gut sichtbar, weil sich die Choreografin von jeglicher Ansicht, unsere Gesellschaft zu charakterisieren, explizit distanziert.

Dadurch kann sie hemmungsbefreit mit der Begehrensmaschine hantieren, die das Wünschen und Wollen von heute produziert. Ganz oben auf der Produktliste steht die Lustbefriedigung. Dafür hat Radical Vitality gleich zu Beginn eine einfache Metapher parat: Eine goldene Venus steckt sich ein Goldglöckerl in den Lendenschurz, und dann – simsalabim – fischt sie das klingelnde Kugerl aus ihrem Mund.

Was solche Einbildungen aus uns machen, wird später unter dem Titel "Ouch! Duet" deutlich, wenn eine köstliche Fee von einem Mann mit Krücke vergeblich angehimmelt wird. In der nächsten Szene schmachten ein Mann und eine Frau mit Krücken aneinander vorbei, woraufhin eine unwiderstehliche Roboter-Maid nur für sich tanzt.

Brutale Offenherzigkeit

Valeria Galluccio tanzt diesen Part mit umwerfender Körperbeherrschung. Fazit, Szene 21: ein Körper mit Krücke an der Stirn, aus dem Mund, am Herzen schleppt sich durch die Leere seiner gescheiterten Träume. Das blinde Hantieren an der Begehrensmaschine kann schwere Verstümmelungen nach sich ziehen. Als ob das nicht allgemein bekannt wäre. Radical Vitality zeigt, warum unser Wissen nicht fruchtet. Gut möglich, dass diese Collage in ihrer bisweilen brutalen Offenherzigkeit zum Besten zählt, das Marie Chouinard bisher geschaffen hat. (Helmut Ploebst, 25.7.2018)