Im Irrawaddy-Delta in Myanmar mündet einer der letzten großen frei fließenden Flüsse Asiens ins Meer. Ein geplantes großes Staudammprojekt wurde 2011 gestoppt.

Foto: Esa

Zu Beginn der Woche veröffentlichte der UN-Weltbiodiversitätsrat ernüchternde Zahlen zur Artenvielfalt der Erde: Rund um den Globus leben heute etwa 20 Prozent weniger Spezies als noch vor hundert Jahren, heißt es in dem 1800 Seiten starken Bericht. Nicht weniger als eine Million Arten sind derzeit vom Aussterben bedroht, die Hauptursache ist der menschliche Einfluss auf nahezu alle Ökosysteme der Welt. In welchem Ausmaß die Lebensadern unseres Planeten – die Flüsse – bereits durch Eingriffe vom Homo sapiens gestört werden, zeigt nun eine aktuelle Studie.

Weniger als ein Viertel der großen Flüsse fließt demnach noch ungehindert von Staudämmen oder Regulierungen, berichtet ein internationales Forscherteam in "Nature". Die Folgen für diese Ökosysteme, die zu den artenreichsten und produktivsten der Erde zählen, sind enorm: Mit der Behinderung des Wasserflusses werden auch die Migration von Lebewesen und der Transport von Sedimenten und Nährstoffen massiv eingeschränkt, der Schwund an Biodiversität wird befördert.

Bedrohte Binnengewässer

"Durch den ungebremsten Ausbau der Wasserkraft zählen Flüsse zu den weltweit am meisten bedrohten Lebensräumen", sagte Klement Tockner zum STANDARD. Der Gewässerökologe und Präsident des österreichischen Wissenschaftsfonds ist einer der Studienautoren und betont, dass dadurch die Lebensgrundlage vieler Millionen Menschen gefährdet sei. "Wir sehen die Auswirkungen dieser Flussverbauungen noch hunderte oder tausende Kilometer entfernt", so Tockner. "Der Rückgang der biologischen Vielfalt ist in den Binnengewässern um das Drei- bis Sechsfache höher als in den Meeren oder auf dem Land."

Für die globale Bestandsaufnahme erfasste das Team um Tockner und Christiane Zarfl von der Universität Tübingen Daten zu mehr als 300.000 Flüssen mit in Summe zwölf Millionen Flusskilometern. Untersucht wurde die sogenannte Konnektivität. Darunter verstehen die Wissenschafter den Wasserfluss und die Vernetzung mit angrenzenden Augebieten und dem Grundwasser sowie den Stoffaustausch mit den verbundenen Biotopen.

Fast drei Millionen Dämme

Je länger Flüsse sind, desto stärker werden sie in ihren natürlichen Läufen beeinträchtigt. Wenig überraschend sind dafür vor allem Staudämme verantwortlich. Frei fließende Flüsse mit über 1000 Kilometer Länge würden sich heute weitgehend auf abgelegene Regionen wie die Arktis, das Amazonas- und das Kongobecken beschränken.

Insgesamt zählten die Wissenschafter rund 2,8 Millionen bestehende Dämme und mehr als 3700 Großbauprojekte. "Diese Dämme sind in erster Linie in Regionen im Bau oder in Planung, die die artenreichsten Ökosysteme beherbergen, die wir haben – im Amazonasgebiet, im Kongo, auf dem Balkan", sagte Tockner.

Die Erhaltung der letzten großen Flüsse, von denen hunderte Millionen Menschen unmittelbar abhängig seien, müsse absolute Priorität haben. In den naturnahen Gewässern liege auch "die Information von hunderten Millionen Jahren natürlicher Evolution". Um Flüsse künftig zumindest teilweise renaturieren zu können, sei dieses Wissen unabdingbar.

Behutsames Flussmanagement

Als vielsagendes Beispiel für von der Flussverbauung bedrohte Arten nennt der Tockner die Störe, eine Familie urtümlicher Wanderfische, die einst auch in unseren Breiten häufig anzutreffen waren. "Es gibt weltweit 26 Störarten, und 24 davon sind vom Aussterben bedroht. Diese Fische existieren seit etwa 200 Millionen Jahren, sie haben alle Eiszeiten und Heißzeiten überlebt. Und innerhalb von 100 Jahren hat der Mensch es geschafft, diese Arten an den Rand des Aussterbens zu bringen."

Auch im Alpenraum boome der Bau von Kleinkraftwerken, was zu einer schrittweisen Degradierung der heimischen Flüsse führe, so der Forscher. "Die Frage ist nicht, Wasserkraft ja oder nein. Die Frage ist, wo und wie man baut."

Um Fragen wie diese zu beantworten und den Artenschutz in Flusssystemen zu verbessern, liefere die aktuelle Studie wichtige Anhaltspunkte, schreibt der Biologe N. LeRoy Poff in einem Begleitkommentar in "Nature". Aus den Daten lasse sich nämlich auch ablesen, wo die Flusskonnektivität künftig durch gezielte Maßnahmen wieder verbessert werden könnte. (David Rennert, 8.5.2019)