Ob im Theater oder in der Oper: Regisseur Peter Sellars ist für seine radikalen Interpretationen bekannt.

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Die Inszenierung löste heftige Diskussionen aus. Als der amerikanische Regisseur Peter Sellars vor zwei Jahren bei den Salzburger Festspielen Mozarts La Clemenza di Tito inszenierte, entzündeten sich die Reaktionen an Sellars politischer Deutung der Oper – und am Umstand, dass er Ausschnitte aus anderen Mozart-Werken einfügte. In diesem Jahr nimmt sich Sellars Mozarts Idomeneo vor (Premiere: 27. Juli): hinter dem Pult auch diesmal wieder der mindestens ebenso unkonventionell agierende Teodor Currentzis. Sellars wird heuer auch die Eröffnungsrede der Festspiele halten.

STANDARD: Sie haben angekündigt, dass sich Ihre "Idomeneo"-Inszenierung um das Thema Erwärmung drehen wird. Wie das?

Sellars: In Idomeneo wird mit Poseidon, dem Gott des Meeres, über unsere Zukunft verhandelt. Nachdem die Griechen den Trojanischen Krieg gewonnen und ihre Schiffe bestiegen haben, schiebt ihnen das Meer einen Riegel vor: "Ihr habt nicht gewonnen", sagt das Meer: "Ihr werdet alles verlieren." Ist das nicht schockierend, wenn das Meer den Menschen seine Grenzen aufzeigt? Darum geht es in Mozarts Oper.

STANDARD: Wie verbinden Sie das mit der Erderwärmung?

Sellars: In der Oper setzt man sich über die Aussagen von Poseidon hinweg. Das machen auch wir heute: Wir wissen genau, was zu tun wäre, aber wir weigern uns. Am Ende des zweiten Akts kommt ein Sturm auf, der die gesamte Flotte vernichtet. Der Meeresgott fordert seinen Tribut. Was muss passieren, damit die Menschheit aufwacht? Auch wir erleben ständig neue Naturkatastrophen, Flutwellen, Hurrikans. Früher passierten solche Katastrophen alle 15 Jahre, mittlerweile zweimal im Jahr. Auch uns schickt das Meer eine Botschaft.

STANDARD: Mit der Sängerin der trojanischen Prinzessin Ilia, der Chinesin Yung Fang, haben Sie bei einer Klimakonferenz zusammengearbeitet. Wie wichtig ist es Ihnen, dass Ihre Protagonisten Ihre Anliegen teilen?

Sellars: Wir alle brauchen Verbündete, über kulturelle Grenzen hinweg. Das Problem der Erderwärmung betrifft uns alle. Die größten Umweltverschmutzer sind die USA und China. Nur wenn sich die beiden Nationen auf Klimaziele einigen, werden wir weiterkommen. Wir müssen die Welt heute global denken, unter Einbeziehung von Afrika und Asien. Keine Generation vor uns musste das tun. Umso wichtiger ist der kulturelle Austausch.

Er ist für seinen politischen Zugraiff auf Opernstoffe bekannt: Peter Sellars
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STANDARD: Sie haben "Idomeneo" bereits einmal inszeniert, 2003 in Glyndebourne. Damals stand der Golfkrieg im Mittelpunkt Ihrer Inszenierung. Schauen Sie heute mit einem anderen Blick auf Mozarts Oper?

Sellars: Es ist für mich heute eine andere Oper. Damals, mit Simon Rattle, bestand das Projekt darin, Idomeneo in all seinen Facetten auf die Bühne zu stellen. Mozart nahm mit Idomeneo im Alter von 24 Jahren Wagners Idee eines Gesamtkunstwerks vorweg. Das war damals nicht umsetzbar. Wir haben in Glyndebourne jedes Stückchen Musik gespielt, das es gab. Rattle meinte damals, der dritte Akt von Idomeneo sei länger als Mahlers dritte Symphonie. Mit Teodor Currentzis haben wir eine sehr knappe, schnelle Fassung erarbeitet.

STANDARD: Hat diese unterschiedliche Perspektive mit Ihrer Erfahrung oder mit den politischen Gegebenheiten zu tun?

Sellars: Ich würde mir wünschen, dass die Verwerfungen im Mittleren Osten heute kein Thema mehr wären. Alles, womit wir uns politisch zu Beginn des 21. Jahrhunderts beschäftigt haben, verfolgt uns auch heute noch in der einen oder anderen Weise. Die Erderwärmung ist ein Thema, bei dem wir auf die Ursprünge unserer Kultur zurückgeworfen werden, bei dem wir uns mit griechischer Mythologie genauso beschäftigen sollten wie mit jener von pazifischen Inseln. In so vielen Kulturen spielt das Meer eine zentrale Rolle.

STANDARD: "Ideomeneo" wird in der Felsenreitschule aufgeführt. Ist der dortige Fels das richtige Gegenüber für eine Inszenierung über das Meer?

Sellars: Die genannten Themen am Fuße eines Berges zu diskutieren, das ist doch fantastisch! Mozarts Musik gegen einen Berg zu spielen ist das genaue Gegenteil von der "Gemütlichkeit", die in Wiener Konzertsälen herrscht.

STANDARD: Ich bin erstaunt, dass Sie die Frage, wie im "Idomeneo" Flüchtlinge gezeichnet werden, noch nicht angeschnitten haben. Das muss Sie doch im Besonderen interessieren?

Sellars: Die ersten 30 Minuten der Oper handeln von nichts anderem als von Flüchtlingen und ihrem Schicksal. Idomeneo beginnt mit der langen Arie der kriegsgefangenen Prinzessin Ilia, dann tritt Elektra auf, auch sie ein Flüchtling. Man realisiert, dass Flüchtlinge nicht immer nur Kriegsverlierer sind, sondern auch oft Gewinner. Sie kehren nach Hause zurück und werden dort mit Gewalt konfrontiert. Genau das zeigen die zwei Frauen Ilia und Elektra sehr deutlich. Jeder kann zum Flüchtling werden, aus gänzlich unterschiedlichen Gründen.

STANDARD: Das Flüchtlingsthema war in Ihrer Salzburger "Tito"-Inszenierung vor zwei Jahren zentral. Knüpfen Sie dort an, wo Sie damals aufgehört haben?

Sellars: Die beiden Opern haben viele Parallelen. Idomeneo hat Mozart als junger Mann geschrieben, La Clemenza di Tito war Mozarts letzte Oper. Aber dazwischen liegen ja nur ein paar Jahre, Mozart ist bekanntlich sehr jung gestorben.

Sellars ungewöhnliche Interpretation von Mozarts "Clemenza di Tito" bei den Festspielen 2017
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STANDARD: Beim "Tito" haben Sie auf andere Musik Mozarts zurückgegriffen, das hat viele Diskussionen ausgelöst. Werden Sie das auch beim "Idomeneo" machen?

Sellars: Beim Idomeneo stellt sich eher die Frage, was man weglässt. Die Oper ist auf andere Art und Weise unvollendet als La Clemenza di Tito, schlichtweg, weil es so viel Musik dazu gibt.

STANDARD: Am Ende von "Idomeneo" gibt es 21 Minuten Ballettmusik. Wie werden Sie damit umgehen?

Sellars: Das ist jener Teil des Idomeneo, in dem Mozart eine Musik der Zukunft schreibt. Die ältere Generation tritt ab, die jüngere übernimmt das Ruder. Genau darum geht es in diesen 21 Minuten, und ich weiß, dass jemand wie Teodor Currentzis daraus einen großen Moment machen wird. Es gibt mittlerweile so viele Schüler, die gegen unseren Umgang mit der Erderwärmung protestieren. Die jüngere Generation muss zur Tat schreiten, davon erzählt Mozarts Avantgarde-Musik, und genau das ist auch politisch gefragt.

STANDARD: Apropos Currentzis: Leute, die Sie beide beobachtet haben, sagen, dass man oft gar nicht weiß, wer Dirigent und wer Regisseur ist. Was verbindet Sie?

Sellars: Teodor ist einzigartig, seine emotionale Bandbreite ist breiter als jene der meisten Menschen, er fordert mich wie niemand sonst heraus. Ich habe eine Idee, und er weist mich mitunter zurecht, dass das etwas zu einfach gedacht ist. Ist das nicht großartig, wenn das ein Dirigent zum Regisseur sagt? Zwischen uns herrscht ein wunderbares Einverständnis – und gleichzeitig die produktivste Reibung. Davon kann man nur träumen.

STANDARD: Was fordert Sie bei dieser Oper am meisten?

Sellars: Die Frage: Was hätte Mozart wollen? Und gleichermaßen natürlich die Frage: Wie gehen wir damit heute um? Das bereitet mir schlaflose Nächte.

(Stephan Hilpold, 6.7.2019)