Bloggerin und Kommunikationstrainerin Jeannine Mik und Coach und Familienberaterin Sandra Teml-Jetter wollen Eltern eine Orientierungshilfe geben und sprechen dabei auch Themen wie Trauma und das eigene Großwerden an. Sie sind überzeugt: Ohne diese Dinge mit in Betracht zu ziehen, machen Ratgeber zu Erziehung und Beziehung keinen Sinn: "Wir müssen zuerst auf uns selbst schauen, bevor wir überhaupt auf die Kinder schauen können."

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Jeannine Mik, Sandra Teml-Jetter, "Mama, nicht schreien!". € 16,50 / 224 Seiten. Kösel-Verlag 2019

(Das Buch ist Nummer eins auf der aktuellen "Spiegel"-Bestsellerliste "Ratgeber – Leben und Gesundheit".)

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Streitende Geschwister, Lügen, kindliche Undankbarkeit oder der absolute Unwille, eine elterliche Bitte umzusetzen – all diese Dinge und noch viele mehr können Eltern wütend werden lassen. Jeder hat unterschiedliche Trigger, die Schreien auslösen können, auch wenn sich Eltern vornehmen, es nicht zu tun. Der familiäre und der persönliche Stresslevel spielen dabei eine Rolle. Die Autorinnen Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter haben dem Thema mit "Mama, nicht schreien" ein Buch gewidmet und wollen Eltern einen "Werkzeugkoffer" in die Hand geben, um mit Emotionen konstruktiv umzugehen.

Kinder wollen, dass Eltern Verantwortung übernehmen, damit sie sich nicht mit ihnen beschäftigen müssen, sondern einfach Kinder sein können.
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STANDARD: Man sagt immer, man lernt sich selbst erst kennen, wenn man Kinder hat. Viele Mütter und Väter wussten vorher nicht, dass sie dazu fähig sind, wutentbrannt zu schreien. Warum können uns Kinder so zur Weißglut bringen?

Mik: Weil sie uns so nahe sind, uns so gut kennen und entsprechend genau wissen, was bei uns los ist. Sie spüren auch die Teile in uns, die wir verborgen halten möchten – mitunter auch vor uns selbst.

Teml-Jetter: Unsere Kinder scannen uns die ganze Zeit. Sie wissen mitunter besser als wir, wie es uns geht. Und sie sorgen auf ihre Art und Weise dafür, dass es uns gutgeht, indem sie auf unser Innenleben reagieren. Sie wollen, dass wir Verantwortung übernehmen, damit sie sich nicht mit uns beschäftigen müssen, sondern Kinder sein können. Sie drücken also genau auf die Stellen, die wehtun. Und dann schreien wir.

STANDARD: Danach fühlen sich Eltern oft leer und schlecht und nehmen sich vor, dass es nicht mehr passiert. Meist ohne Erfolg. Gibt es hierfür einen Notfallplan?

Teml-Jetter: Ein Notfallplan ist in unserem Buch beschrieben. Jeannine hat ihn C.I.A. genannt. Wenn Eltern sich etwas vornehmen und die Umsetzung immer wieder nicht gelingt, dann haben sie vielleicht noch nicht ihr Bestes gegeben. Damit will ich nicht sagen, dass wir alles sofort können sollten. Aber eine Entschuldigung ist nichts wert, wenn man sein Verhalten nicht sofort ändert. Deswegen gibt es Menschen wie mich, die Eltern dabei unterstützen, Alternativen zu suchen und neue Wege zu gehen. Wer sich hilflos fühlt, möge sich Hilfe holen.

Mik: Dazu wollen wir auch ausdrücklich ermutigen. Wir wissen, dass die Inhalte unseres Buches, die Beispiele und auch die beschriebenen Übungen viel in unseren Leserinnen und Lesern auslösen können. Wir bleiben mit unseren Ausführungen nicht an der Oberfläche. Nicht ohne Grund verweisen wir mehrmals auf die Möglichkeit, sich professionell begleiten zu lassen, wenn man das Gefühl hat, allein nicht weiterzukommen oder von Gefühlen überwältigt zu werden.

STANDARD: Was macht es mit den Kindern, wenn Eltern ab und zu laut werden?

Teml-Jetter: Wenn Eltern laut werden, macht das erstmal gar nichts – weil es kommt auf die Intention der Eltern an. Was wollen sie mit ihrem Lautwerden erreichen? Drohen sie? Erpressen sie? Entladen sie sich an ihren Kindern oder am Partner? Bestrafen sie? Oder geht einfach mal das Häferl über? Darauf reagieren Kinder. Sobald sie merken, dass ihre Eltern für ihr eigenes (Innen-)Leben Verantwortung übernommen haben, sind sie vielleicht kurz mal erschrocken – aber dann sind sie wieder frei, Kind zu sein.

Mik: Alle Gefühle dürfen sein. Das gilt sowohl für unsere Kinder als auch für uns als Erwachsene. Einzig kommt für Eltern hinzu, dass sie selbst für einen bewussten Umgang damit verantwortlich sind. Das ist bei Kindern nicht der Fall: Sie brauchen uns als Vorbilder, um zu lernen, wie man mit starken Gefühlen umgeht. Und sie lernen leider auch, dass man sie lieber unterdrückt oder beiseiteschiebt, wenn wir als Eltern ebendies tun.

STANDARD: Macht die Häufigkeit einen Unterschied?

Teml-Jetter: Allen reißt mal die Hutschnur. Die Frage ist tatsächlich, wie oft – denn dann müssen wir vielleicht etwas Grundlegendes ändern. Die Frage ist, wie gehe ich mit meinen Emotionen um, sodass ich sie nicht gegen andere richte, sondern sie ihrer Bestimmung gemäß etwas Konstruktives in Bewegung bringen.

STANDARD: Eltern haben oft das Gefühl, dass ihre Kinder sie überhören oder sie nicht hören wollen. Auch dann wird oft geschrien, nachdem fünf nette Versuche, um die kindliche Aufmerksamkeit zu ringen, kläglich gescheitert sind.

Teml-Jetter: Da müssen wir schon den Kontext anschauen, warum Kinder ihre Eltern überhören. Wenn es Befehle sind, wenn Eltern ihren Plan über ihre Kinder stülpen, wenn es Eltern nicht gelingt, mit ihren Kindern überhaupt in Kontakt zu gehen, weil sie selbst nicht bei sich sind, wenn Eltern so indirekt verlangen, dass ihre Kinder etwas tun sollen, damit es Mama und Papa besser geht. Dagegen wehren sich Kinder, das hören sie nicht und schalten auf Durchzug oder werden selbst laut und aggressiv. Zu Recht, meinen wir.

Mik: Zudem dürfen Eltern sich auch fragen, ob sie sich selbst eigentlich hören. Und zwar ganz konkret ihre eigenen Bedürfnisse, ihr eigenes Wollen. Achten wir auf uns selbst? Nehmen wir uns ernst und jene Dinge, die uns wichtig sind? Oder übergehen wir unser Wollen, schieben wir es zur Seite – vielleicht auch, weil wir es Zeit unseres Kindseins so "gelernt" haben oder es notwendig war, um in der Familie angenommen und geliebt zu werden?

STANDARD: Manchmal begeben sich Eltern sogar auf das kindliche Niveau und provozieren, sticheln et cetera. Wie können sich Erwachsene davor schützen?

Teml-Jetter: Wenn Eltern das tun, erfüllen sie nicht ihre Aufgabe, machen ihren Job nicht. Aber wer soll sie kündigen oder rausschmeißen? Kinder sind ihnen leider ausgeliefert. Erwachsene müssen als Eltern und Partner ihr Bestes geben, sich reif verhalten. Punkt.

Mik: Wir widmen dem Thema Erwachsensein beziehungsweise reifes Verhalten ein ganzes Kapitel und laden Eltern ein, sich ihre automatischen Verhaltensweisen, die sie beispielsweise an den Tag legen, wenn etwas nicht läuft, wie sie es sich vorgestellt haben, bewusst zu machen. Erst wenn wir wissen, was wir tun und diesen individuellen Wahrheiten ins Gesicht sehen, können wir die Dinge aktiv anpacken und etwas verändern. Diese gewinnbringende, bereichernde Veränderung liegt einzig in unserer Verantwortung.

STANDARD: Man könnte sagen, Eltern sind auch nur Menschen. Wenn ein lauter Wutausbruch doch einmal passiert trotz aller guten Absichten: Hilft es, sich danach bei den Kindern zu entschuldigen und darüber zu reden, das Verhalten zu erklären?

Teml-Jetter: Ja, Wut darf ja auch ausbrechen, um verarbeitet zu werden. Es ist eine Frage des Wie: Schreien ist erlaubt – Anschreien nicht. Und Kinder wissen sofort, ob ihre Eltern ihr Verhalten bereuen. Das "lesen" sie in ihnen. Die Erklärung braucht es dann nur oft für die Eltern selbst.

Mik: Das Ziel für uns Eltern darf nicht sein, die Emotionen, die wir empfinden, hinunterzuschlucken, anstatt sie beispielsweise rauszubrüllen. Auch damit wären wir in der Vermeidung, im Wegschieben – und nicht im Spüren. Es geht darum, die Emotionen in unserem Körper zu spüren, zu atmen und einen verantwortungsvollen, bewussten Umgang damit zu erlernen, wozu wir konkrete Übungen und auch unseren Notfallplan bereitstellen. Das "Ziel" erreichen Eltern ziemlich sicher nicht von heute auf morgen, aber es lohnt sich, dranzubleiben. Für gelingende Beziehungen zu uns selbst und den Menschen, die uns wichtig sind. (Marietta Adenberger, 21.7.2019)