Jörg Hartmann als Lehrer inmitten seiner Schutzbefohlenen: Die Last der Mehrfachrollen kann der Hauptdarsteller nicht ganz schultern.

Arno Declair

Es ist alles da – bis in die kleinsten Verästelungen der Geschichte. Der ehemalige Lehrerkollege, der von den Segnungen der Masturbation doziert. Der strafversetzte Landpfarrer, für den die Kirche immer auf der Seite der Reichen sein muss. Die Prostituierte, die einen der Schüler in eine abstruse Falle locken soll. Und doch verlässt man diese Dramatisierung von Ödön von Horváths Jugend ohne Gott mit dem Gefühl, dass etwas fehlt.

Die Frage ist nur, was? Der 140-minütige pausenlose Abend (er ist eine Koproduktion mit der Berliner Schaubühne) läuft wie ein Uhrwerk ab, die Szenen greifen ineinander, die handwerkliche Geschicklichkeit, mit der Regisseur Thomas Ostermeier das bewerkstelligt, ist bewundernswert.

Doch fangen wir von vorne an. Im schwarzen T-Shirt erhebt sich Jörg Hartmann, der an diesem Abend den Lehrer und damit Horváths Ich-Erzähler gibt, von einer der vorderen Stuhlreihen. "Was verdanke ich Adolf Hitler?" ist einer seiner ersten Sätze. Um sich schließlich selbst eine Antwort zu geben: "Alles!" Es ist ein Originalbrief eines deutschen Arbeiters an den Führer, den Hartmann in einem Tonfall vorträgt, der so kolloquial und selbstverständlich ist, als beschreibe er die aktuelle Wetterlage. Diese ist Mitte der 1930er-Jahre von einer Front pechschwarzer Wolken geprägt, die sich bald entladen werden.

Kalte, regungslose Fische

Von den Stimmungen und Spannungen, die die Luft zum freien Atmen nehmen, handelt Horváths 1937 erschienener Roman. Gemeinhin liest man ihn als luzide Beschreibung einer Schulklasse, in der sich wie in einem Mikrokosmos faschistoides Verhalten breitmacht. Als der Lehrer Afrikaner (auf der Bühne des Salzburger Landestheaters ist das N-Wort begreiflicherweise gestrichen) als Menschen verteidigt, fordern die Schüler dessen Suspendierung. Statt nach den Osterferien wieder in die Schule zurückzukehren, geht es in ein Zeltlager. Dort übt man den richtigen Umgang mit Waffen, was die Mutter des Bäckersohns mit großem Stolz vernimmt. Mindestens genau so sehr beschäftigt sie allerdings die Frage, ob der Bub (Damir Avdic) ja nicht wieder die guten Socken vertauscht.

Es ist der Einbruch des Niederträchtigen ins Alltägliche, ein Mord ohne ersichtlichen Grund, den Horváth in seinen kurzen, von allen Stimmungswolken gereinigten Sätzen beschreibt. Allerdings erfolgt dies aus der Perspektive des Lehrers, der selbst im System gefangen erscheint. Er moralisiert – und kann doch nicht zugeben, dass er es war, der das Kästchen eines der Schüler, in der dieser sein Tagebuch aufbewahrt, aufgebrochen hat. Er beobachtet und kommentiert – und ist über weite Strecken selbst einer dieser kalten und regungslosen Fische, die für Horváth Synonyme für eine allgemeine Verstocktheit sind.

Mehr als ein Schulklassiker

Diese Widersprüche machen Horváths Schulklassiker zu einem weit komplexeren Werk, als landläufige Lesarten vermuten lassen, und spiegeln auch Horváths eigene ambivalente Geschichte wider. Der "Exilautor", der Jugend ohne Gott in Henndorf bei Salzburg geschrieben hat, versuchte sich noch in den Anfangsjahren des Naziregimes an dieses anzubiedern, wie Germanist Klaus Kastberger in einem Aufsatz im Programmheft ausführt. Mit Jugend ohne Gott schreibt er sich schließlich selbst ins Exil.

Diese Vielschichtigkeiten muss eine Dramatisierung, die sich so werktreu gibt wie jene von Regisseur Thomas Ostermeier und Dramaturg Florian Borchmeyer, erst einmal hinkriegen. Anstatt in sie hineinzuhorchen, drückt Ostermeier aber die Fast-Forward-Taste. Vor dem stimmungsvollen Baumdickicht, das Jan Pappelbaum auf die Bühne des Landestheaters gestellt hat, wird aus einem Klassenzimmer ein Zeltlager und ein Salon. Noch im Sprechen wechseln die neben Jörg Hartmann insgesamt sieben Schauspieler ihre Identitäten genauso wie ihre Kleidung.

Problemstellung Rollenwechsel

Das funktioniert, wie gesagt, hervorragend, die meisten Charaktere bleiben dabei aber nicht viel mehr als Umrisse, die das Geschehen zwar vorantreiben, aber kaum (wie zum Beispiel Alina Stiegler als Wildfang Eva) die Chance haben, eine stärker konturierte Gestalt zu entwickeln.

Es ist der Lehrer des Jörg Hartmann, der das Gewicht der Inszenierung schultern muss. Er ist Erzähler, Kommentator und Spieler in einem und muss in Sekundenschnelle die Rollen wechseln. An dieser Aufgabe trägt er schwer, und vielleicht hat er sich deswegen einen gleichbleibend sonoren Tonfall zurechtgelegt, der in allen Erzähllagen funktioniert. Die Zerrissenheit dieser Figur, die ja auch die Komplexität dieses Romans und seiner Zeit abbildet, kriegt er damit aber nicht in den Griff. (Stephan Hilpold, 29.7.2019)