Stefan Lange (54) lebt in Deutschland und der Schweiz. Er ist Betriebswirt, Buchautor und engagiert sich in der Suizidprävention. Er hält Vorträge und Lesungen zum Thema. In seiner 61-teiligen Youtube-Serie "Komm, lieber Tod" erzählt er schonungslos offen, wie es zum Suizid kam, was danach passierte und wie er zurück ins Leben fand. Weitere Infos zu ihm, seinem autobiografischen Roman und seinen Projekten gibt es unter: www.stefan-lange.ch.

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STANDARD: Vor rund 25 Jahren wollten Sie sterben und haben eine Überdosis Medikamente genommen. Was war der Auslöser für diesen Schritt?

Stefan Lange: Weil eine vermeintlich große Liebe gescheitert ist. Ich war 29, hatte gerade mein Studium abgeschlossen, der Trennungsschmerz war nicht auszuhalten. Ich war mir sicher, dass mein Leben niemals wieder lebenswert sein würde.

STANDARD: In Ihrer Youtube-Serie "Komm, lieber Tod" erzählen Sie, dass Sie schon als kleiner Junge sterben wollten.

Lange: Ich wurde von meinem Vater missachtet und häufig verprügelt. Meine Mutter hat nichts dazu gesagt. Ich fühlte mich total wertlos. Abends im Bett habe ich mir oft gewünscht, dass ich einschlafe und nie wieder aufwache. Dieser Gedanke war für mich tröstlich. Als Teenager und junger Erwachsener habe ich viel Alkohol getrunken, um meinen Schmerz zu betäuben. Nach außen war ich fröhlich, aber ich habe oft daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen.

STANDARD: Die gescheiterte Liebe war also nur der Trigger für Ihren Suizidversuch?

Lange: Richtig. Suizidalität entsteht nicht von jetzt auf gleich. Es gibt einen langen Weg dorthin. Wenn man jahrelang glaubt, wertlos zu sein, fühlt sich auch das Leben wertlos an. Und dann ist man schneller bereit, es zu beenden.

STANDARD: Wie haben Sie überlebt?

Lange: Wie durch ein Wunder, ich hatte viele Tabletten geschluckt. Als ich wieder aufwachte, war ich noch völlig benebelt. Ich sah eine Ecke, eine Linie und wieder eine Ecke. Komisch, dachte ich, ist das der Himmel? Dann sah ich eine grüne Stahltür. Irgendwann begriff ich, dass ich mich in einer Gefängniszelle befand. Später erzählte mir die Polizei, ich sei noch Auto gefahren, hätte dabei mehrere parkende Autos und einen Vorgarten demoliert, bis ich im Straßengraben gelandet bin. Ich kann mich an nichts mehr erinnern.

Der 10. September ist Welttag der Suizidprävention. Er soll für das Tabuthema sensibilisieren und Betroffenen zeigen, dass es in jeder schweren Krise Auswege und Hilfe gibt.
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STANDARD: Wie ging es weiter?

Lange: Ich rutschte völlig ab, nahm weiterhin Tabletten und schließlich starke Betäubungsmittel. Das Medikament machte mich total lethargisch, alles war mir egal, ich hörte auf zu denken. Ich lag stundenlang auf meinem Bett in meinem WG-Zimmer, starrte an die Decke, fühlte mich und meine Trauer nicht mehr. So ging das wochenlang. Ich war wie lebendig tot.

STANDARD: Hat denn niemand etwas gemerkt?

Lange: Nein, meine WG-Mitbewohner waren selten da, und den Kontakt zu anderen Freunden hatte ich vorher schon einschlafen lassen. Wenn ich zufällig jemanden traf, täuschte ich vor, dass es mir gutging. Genau genommen war ich total verwahrlost. Ich lebte mittlerweile von Sozialhilfe, in meinem Zimmer türmten sich leere Bierflaschen und volle Aschenbecher. Aber mir war alles egal.

STANDARD: Bis Sie Ihre Lebensretterin trafen.

Lange: Ja, eine gute Freundin, die ich ein paar Monate nicht gesehen hatte. Ich traf Anja auf der Straße, und sie erkannte gleich, dass etwas nicht stimmte. Wir setzten uns in eine Kneipe, sie stellte viele Fragen, hörte geduldig zu. Anja ließ auch danach nicht locker, meldete sich alle paar Tage oder kam vorbei. Irgendwann meinte sie, "Das Problem ist größer, als ich dachte", und empfahl mir, eine Therapie zu machen.

STANDARD: Wie haben Sie reagiert?

Lange: Anfangs blockte ich ab. Aber Anja hakte immer wieder nach, und irgendwann war ihre Geduld vorbei. "Du machst jetzt verdammt nochmal eine Therapie. Ich kann dir allein nicht weiterhelfen!" Da wählte ich dann die Nummer des Therapeuten. "Wenn Sie so weitermachen, sind Sie in zwei Monaten entweder tot oder in der Psychiatrie", sagte er beim ersten Termin. "Eigentlich müsste ich Sie sofort einweisen!" Das hat mich wachgerüttelt, ich wollte nicht in die Psychiatrie. Er meinte, er würde mich nur gehen lassen, wenn ich ihm verspreche, keine Tabletten mehr zu schlucken und bis zum nächsten Termin meine Geschichte aufzuschreiben.

STANDARD: Und das wirkte?

Lange: Ja, ich habe noch am gleichen Abend mit dem Schreiben begonnen und keine Tabletten mehr genommen. Der kalte Entzug in den nächsten Wochen war sehr heftig. Ich habe gezittert, gefroren, geschwitzt und gekotzt. Aber ich war fest gewillt, das durchzustehen. Das Schreiben motivierte mich.

STANDARD: Was hat Sie dazu bewegt, Ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen?

Lange: Durch die vielen Gespräche mit Anja habe ich realisiert, dass ich gar nicht sterben, sondern nur diese schmerzhafte Trauer um meine große missglückte Liebe loswerden wollte. Heute weiß ich, dass es vielen Menschen so geht, die einen Suizidversuch machen. Sie wollen eigentlich nicht ihr Leben, sondern nur einen unerträglichen Zustand beenden. Deshalb erzähle ich meine Geschichte. Wenn wir Betroffenen zeigen, dass es einen Ausweg gibt, ist das die beste Prävention. So kann man Menschen Mut machen und vom Suizid abhalten. Das ist wissenschaftlich erwiesen.

STANDARD: Sie meinen die Studien des Suizidologen Thomas Niederkrotenthaler von der Med-Uni Wien?

Lange: Genau. Er hat dies als Papageno-Effekt bezeichnet, benannt nach dem Helden in Mozarts Zauberflöte, der davon abgehalten wird, sich umzubringen.

STANDARD: Im Gegensatz zum Werther-Effekt.

Lange: Das stimmt. Nachdem Goethe das Buch Die Leiden des jungen Werther veröffentlicht hatte, nahm die Anzahl der Suizidversuche und Suizide merklich zu. Mittlerweile weiß man aber, dass es auf die Art der Darstellung ankommt. Wird der Suizid oder Suizidversuch in den Medien verherrlicht und als Lösung dargestellt, begünstigt dies Nachahmertaten. Wenn die Berichte hingegen zurückhaltend sind und aufzeigen, wie Krisen überwunden werden können, welche Hilfsangebote es gibt oder wie jemand nach einem gescheiterten Suizidversuch zurück ins Leben findet, sinkt die Suizidrate. Deshalb lautet mein Motto: Reden kann Leben retten.

STANDARD: Was raten Sie Menschen, die an Suizid denken?

Lange: Suizidgedanken kommen und gehen, trotzdem sollte man sie ernst nehmen und mit jemanden darüber sprechen. Nicht alle können mit dem Thema umgehen, aber es gibt viele gute Angebote für Suizidgefährdete (siehe unten "Wo es rasche Hilfe gibt"). Je eher man diese annimmt, desto einfacher wird es, einen Ausweg zu finden, weg von den selbst zerstörerischen Gedanken.

STANDARD: Wann haben Sie gelernt, Ihr Leben wieder zu schätzen?

Lange: Das hat einige Jahre gedauert. Ich hatte viele Therapiestunden, Gespräche und Erkenntnisse hinter mir, als mir erstmals bewusst wurde, wie dankbar ich bin, überlebt zu haben. Es gibt immer noch depressive Phasen in meinem Leben, aber ich habe gelernt, andere um Hilfe zu bitten. Außerdem habe ich eine tolle Partnerin und mit der Suizidprävention eine sehr erfüllende Aufgabe.

STANDARD: Sie beschreiben Ihren eigenen Weg mit den Worten "vom Selbstmörder zum Lebensretter". Was macht Sie so sicher, dass Sie tatsächlich Leben retten?

Lange: Das positive Feedback auf meine Youtube-Serie und Lesungen, bislang sind es über 500 E-Mails. Viele Betroffene schreiben mir, dass mein Bericht ihnen die Augen geöffnet, sie getröstet und vom Suizid abgehalten hat. Das macht mich sehr glücklich. Denn das ist für mich die Bestätigung, dass mein Überleben einen Sinn hat. (Claudia Minner, 10.9.2019)