Was der Mensch heute isst und wie er es anbaut – das ist nicht mehr artgerecht, sagt der Mediziner und Biologe Martin Grassberger. Industrielle Landwirtschaft, Ackergifte und Monokulturen ließen den Boden verarmen. Das führe nicht zuletzt zu chronischen Krankheiten beim Menschen, so Grassberger, der im Weinviertel regenerativ-ökologischen Pflanzenbau betreibt.

STANDARD: Hat die Medizin zu sehr den Körper und zu wenig die Natur des Menschen im Blick?

Grassberger: Das kann man sagen. Im Medizinstudium erfahren Sie nur am Anfang ein bisschen was über Biologie. Wie sehr der Mensch Teil der Umwelt ist, wird kaum gelehrt. Doch alle Lebewesen haben denselben evolutionären Ursprung. Wenn die Natur durch Umweltgifte und Chemikalien stirbt, stirbt irgendwann der Mensch. Das sehen wir an den modernen Krankheiten. Auf den ersten Blick mag das Artensterben etwa bei Vögeln oder Bienen nichts mit chronischen Krankheiten beim Menschen zu tun haben. Aber es gibt einen Missing Link.

STANDARD: Worin besteht der?

Grassberger: Die Abnahme der Biodiversität betrifft nicht nur Tiere, die wir sehen. Auch die bakterielle Vielfalt nimmt ab. Das Mikrobiom in unserem Erdboden und in unserem Darm ist in den letzten Jahrzehnten massiv verarmt, seine Zusammensetzung hat sich verändert. Die Darmbakterien von Menschen mit westlichem Ernährungsstil sind heute viel weniger vielfältig als die von Menschen mit ursprünglicher Lebensweise etwa in Südamerika oder Afrika.

STANDARD: Wie beeinflussen denn Darmbakterien Krankheiten?

Grassberger: Bei vielen chronischen Erkrankungen liegt eine Störung des Mikrobioms zugrunde. Etwa Parkinson: Nach der Diagnose zeigt sich oft, dass die Patienten jahrelang Verdauungsprobleme hatten. Ähnliches gilt bei chronischen Krankheiten wie Diabetes und Alzheimer-Demenz. Da hat die Medizin einen blinden Fleck. Verändert hat sich ja nicht der Mensch, sondern die Umwelt, in der er lebt. Und was er isst.

Es ist was faul auf dem Land: 60 Prozent von Europas Ackerflächen sind für die Produktion von Tierfutter reserviert. Gifte und einseitige Bepflanzung lassen den Boden verarmen.
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STANDARD: Welche Rolle spielt unsere Landwirtschaft bei alldem?

Grassberger: Wir produzieren nicht mehr artgerecht für den Menschen. Schuld ist aber nicht die Landwirtschaft allein: Wir essen zu viel Zucker und simple Kohlehydrate. Das hat sich durch den Vormarsch verarbeiteter Nahrungsmittel verschärft, deren Zusatzstoffe wie Emulgatoren wir aufnehmen. Die Bakterien im Darm lieben komplexe Kohlehydrate und Ballaststoffe wie in grünem Gemüse – nicht simple Stärke wie Brot. Der Mensch ist über Jahrtausende ohne Tafelzucker ausgekommen. Dazu kommt, dass wir auch die Chemie, die in der Landwirtschaft eingesetzt wird, aufnehmen. Das wirkt nicht günstig auf unsere Darmbakterien.

Standard: Was passiert mit Böden, deren Mikrobiom verarmt ist?

Grassberger: So wie der Mensch krank wird, wenn sein Mikrobiom geschädigt ist, werden auch Pflanzen krank. Der Humus verarmt, der Boden ist der Erosion preisgegeben. Die Klimakrise verschärft das Problem. Sie macht es dem Boden schwer, Nahrung zu produzieren. Wir werden in den nächsten Jahrzehnten in Österreich um bis zu 40 Prozent weniger Ertrag haben – wegen der Erwärmung. Es braucht eine Wiederherstellung der Biodiversität. Das wird mit Monokulturen aus Raps, Weizen und Mais nicht gelingen.

STANDARD: Sehen Sie Ansätze eines Umdenkens?

Grassberger: Bei einzelnen Konsumenten, Landwirten und Umweltschützern. Im Großen aber, wo es um Agrarsubventionen geht, ändert sich nichts. Die führen dazu, dass auf großer Fläche weiterhin produziert wird wie bisher.

STANDARD: Könnte man denn mit biologischem Anbau die wachsende Weltbevölkerung ernähren?

Grassberger: Ich glaube, dass man zehn Milliarden Menschen ernähren kann, wenn wir auf ökologische und biologische Landwirtschaft umstellen. Derzeit wird viel Fläche verwendet, um Biotreibstoffe und Futtermittel anzubauen, was der Fleischkonsum nötig macht. Wir müssen die Nahrungsmittelverschwendung reduzieren und wieder vernünftige Mengen an Fleisch essen, also viel weniger. Der Boden ließe sich durch regenerative Landwirtschaft wieder aufbauen, das macht ihn auch robuster für Wetterextreme. Die Lösung sind kleinteilige, regionale Landwirtschaftsstrukturen. Das mag für manche nach Rückschritt klingen, aber wir haben keine andere Wahl. Die kleineren Erträge aus biologischem Anbau sind ja die normalen und gesunden, und nicht die massiven Erträge durch Kunstdünger. Die wurden nur zum neuen Normalen. Auf Kosten des Bodens und der Gesundheit. (Lisa Mayr, 23.10.2019)