Bürger reinigen zerstörte Porträts von Holocaust-Überlebenden in Wien: Wie man antisemitische Vorurteile entkräften kann, damit beschäftigt sich Uffa Jensen.

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"Antisemitismus ist nicht das Vorurteil der Dummen. Diese Haltung findet sich unter akademisch gebildeten Menschen genauso wie in Arbeiterschichten und in der Mitte der Gesellschaft", sagt der deutsche Historiker.

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Antisemitische Vorurteile überraschen Uffa Jensen nicht. Der stellvertretende Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin weiß, dass sich diese seit Jahrzehnten konstant in allen Gesellschaftsschichten halten. Sorgenvoll blickt er aber nach Österreich. Denn die Alternative für Deutschland kupfere bei der Auswahl ihrer Mitarbeiter von der FPÖ ab.

STANDARD: In Österreich hat das neuerliche Auftauchen eines Liederbuchs einer Burschenschaft mit antisemitischen Liedtexten für Empörung gesorgt. Da heißt es etwa "Heil Hitler, ihr alten Germanen". Bei dem FPÖ-Politiker und seiner Partei fehlt das Problembewusstsein. Wäre das ein Rücktrittsgrund?

Jensen: Ich finde, klassischer Antisemitismus ist eigentlich ein Rücktrittsgrund. Gerade im österreichischen Milieu von Burschenschaften gibt es einen manifesten Antisemitismus, und der schwappt ja offensichtlich auch immer wieder in die FPÖ über. Ich mache mir Sorgen, weil das Modell der FPÖ von der AfD in Deutschland nachgeahmt wird – gerade auch die Rekrutierung von Mitarbeitern aus den radikalen Burschenschaften. Jetzt sind zwar keine Liederbücher gefunden worden, aber für diese Gruppen spielt Antisemitismus als Gemeinschaftskitt oft noch eine sehr große Rolle.

STANDARD: Ist Antisemitismus in allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen vorhanden?

Jensen: Antisemitismus ist nicht das Vorurteil der Dummen. Diese Haltung findet sich unter akademisch gebildeten Menschen genauso wie in Arbeiterschichten und in der Mitte der Gesellschaft.

STANDARD: Unterscheiden sich die Vorurteile dieser Gruppen?

Jensen: Es kann Unterschiede geben. In ländlichen Gebieten finden sich häufiger religiös geprägte Vorurteile, akademische Schichten äußern ihre Ressentiments oft über Kritik an Israel. Das ist beliebt bei Menschen, die wissen, dass offene antisemitische Äußerungen sanktioniert werden.

STANDARD: Oft heißt es dann, man dürfe Israel ja gar nicht kritisieren.

Jensen: Das ist ein anderes Paar Schuhe. Wir versuchen mit vielen verschiedenen Methoden herauszufiltern, was eine kritische Meinung etwa zur israelischen Regierung ist und was eine Israel-Feindschaft ist. Wenn Leute Aussagen zustimmen, dass Menschenrechtsverletzungen Israels mit Taten des Nationalsozialismus gleichzusetzen sind, wird es problematisch. Damit werden legitime Formen der Israel-Kritik überschritten. Das ist eine Dämonisierung des "Judenstaates".

STANDARD: Nach dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle und den rechtsextremen Morddrohungen gegen deutsche Politiker äußern sich viele erstaunt, woher der Hass und der wiederaufflammende Antisemitismus kommen. Haben Sie eine Antwort darauf?

Jensen: Der Anschlag selbst hat mit der Entwicklung des Rechtsterrorismus zu tun, bei dem oft radikale Varianten des Antisemitismus eine Rolle spielen. Spätestens seit den NSU-Morden wissen wir, dass es diese gewaltbereiten Kräfte in Deutschland gibt. Das ist aber ein Spezialproblem im Vergleich zum gesellschaftlichen Antisemitismus. Der mündet normalerweise nicht in terroristischer Gewalt.

STANDARD: In den vergangenen Jahren hat man sich in Deutschland, aber auch in Österreich stark auf die Bekämpfung von radikalem Islamismus konzentriert. Wurde da der Kampf gegen die rechte Szene vernachlässigt?

Jensen: Es gab schon viele Gründe, da genau hinzuschauen. Es ist nicht lange her, dass es terroristische Anschläge auf jüdische Einrichtungen von Islamisten gegeben hat. Dennoch hat man sich zu sehr auf Antisemitismus von Muslimen konzentriert – Stichwort "importierter Antisemitismus". Dabei haben wir über die Jahre immer gewarnt, den rechten Antisemitismus nicht zu vergessen. Gerade weil es in diesen radikalen Gruppen auch eine sehr hohe Gewaltbereitschaft gibt.

STANDARD: Ein Blick auf Umfragen zeigt hohe Werte: Scheitert die Aufklärungsarbeit?

Jensen: Das ist mir zu pessimistisch gedacht. Man muss nachhaltig gegen Antisemitismus und Rassismus vorgehen. Daran hat es über die vielen Jahre ein bisschen gemangelt. Gleichzeitig haben wir lange in der Aufklärungsarbeit gedacht, antisemitischen Vorurteilen am besten zu begegnen, indem man sie argumentativ widerlegt. So einfach lässt sich den antisemitischen Fantasien nicht beikommen. Es braucht Methoden, die jenseits dieser nüchternen, rationalen Argumentationsweise liegen.

STANDARD: Wie funktioniert das?

Jensen: Wir beschäftigen uns viel mit visueller Kommunikation. Wir versuchen, den Logiken dieser Bilder, die im Internet kursieren, auf die Spur zu kommen. Wichtig ist es, diese Gefühlsaufwallungen zu beachten, die sich in Wort und Bild äußern können, und wir müssen uns die Abwehr rationaler Argumente anschauen.

STANDARD: Warum halten sich diese Vorbehalte gegen Jüdinnen und Juden schon so lange?

Jensen: Der gesellschaftliche Antisemitismus ist heute wieder sichtbarer geworden, auch wenn er eigentlich konstant vorhanden ist. Bestimmte Gruppen fühlen sich nun auch aufgefordert, ihn deutlicher zu äußern. Gleichzeitig haben sich die Vorurteile aber verändert. In den 50er- und 60er-Jahren lehnten zwischen 40 und 50 Prozent der deutschen Bevölkerung es ab, Juden als Nachbarn zu haben. Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Problem, das immer auch mit der Veränderung der Welt zu tun hat – mit der Ökonomisierung, der zunehmenden Komplexität der Welt. Diese Weltbilder scheinen einfache Antworten auf Dinge zu liefern, die man sich nicht einfach erklären kann.

STANDARD: Sie sprechen sich auch für mehr Humor bei der Widerlegung von Vorurteilen aus: Was kann man von Ali G alias Borat lernen?

Jensen: Als rationaler Aufklärer erscheint man ja auch schnell als Mitglied einer Elite, der mit dem drohenden Zeigefinger argumentiert. Da wird uns nicht immer zugehört, und so stellt sich schon die Frage, wie wir Zugänge finden. Die grotesken Übersteigerungen, die der Borat-Film auch zu Antisemitismus enthielt, sind ein interessanter Versuch. Überraschender Humor kann helfen, Fronten aufzubrechen. Es geht ja immer darum, beim Gegenüber einen Prozess des Verstehens einzuleiten. Aber bei den schlimmsten antisemitischen Aussagen bleibt einem nichts anderes übrig, als konfrontativ zu werden. Mit waschechten Rassisten will man nicht unbedingt lachen.

STANDARD: Kommen bei antisemitischen Vorurteilen die gleichen Mechanismen zum Zug wie bei antimuslimischen?

Jensen: Beides sind Formen des Rassismus, die ähnlich diskriminierend und abwertend funktionieren. Vor allem auf der politisch rechten Seite finden sich Menschen, die Vorurteile gegen Juden hegen und sie auch stark gegenüber Muslimen oder anderen Gruppen empfinden. Das wird zu einem Menschenfeindlichkeitssyndrom zusammengeführt. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, 14.11.2019)