Wenn man bösartig ist, könnte man sagen, die Gründung der Zweiten Republik vor 75 Jahren war die sehr österreichische Leistung eines Opportunisten, eines deutschnationalen, selbstverständlich latent antisemitischen rechten Sozialdemokraten, der geübt darin war, sich Diktatoren anzubiedern: zuerst an Hitler mit seinem begeisterten "Ja" zum "Anschluss" 1938, dann 1945 an Stalin.

Man könnte aber auch sagen, dass dieser Dr. Karl Renner zugleich ein glühender österreichischer Patriot und ein großartiger Realpolitiker war, der das unglaubliche Kunststück fertigbrachte, aus den Trümmern ein demokratisches, ungeteiltes Österreich zu gründen.

Blick auf den Heldenplatz in der Wiener Innenstadt.
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Daran waren selbstverständlich auch die Westalliierten und die Vertreter der anderen, neugegründeten Parteien – ÖVP, SPÖ, sogar einzelne Politiker der KPÖ – substanziell beteiligt. Aber es war Renner, der am 15. April 1945 – die Schlacht um Wien war am 13. April zu Ende gegangen – einen unfassbar unterwürfigen Brief an Stalin richtete und sich den sowjetischen Militärs zur Verfügung stellte – und akzeptiert wurde. Es war Renner, der eine provisorische Allparteienregierung zusammenstellte, die dann später auch von den Westalliierten und den Westösterreichern anerkannt wurde. Und es war Renner, dessen bombastischer Stil die "Unabhängigkeitserklärung" vom 27. April 1945 prägte.

Österreichischen Opfertheorie

Es ist eines der unbekanntesten Gründungsdokumente eines Staates, und das mit Grund. Die großartige Rhetorik Renners lässt sich auf den "Herr Karl"-Satz verdichten: "Mir warn a Opfer." Das war die Geburtsstunde der österreichischen Opfertheorie.

Man kann dieser Mischung von Chuzpe, von schlawinerhafter Schläue, aber gleichzeitig echtem Wunsch nach einem Leben in Freiheit einen gewissen Respekt nicht versagen. Wahrscheinlich war es in dieser Situation das Richtige. Oder es war nichts anderes möglich (das Haus der Geschichte hat eine Website mit sehr illustrativen Fotos der damaligen Situation eingerichtet, die Österreichische Mediathek bietet Tondokumente).

Diese Demokratie nach 1945 war eine ziemlich autoritäre. Die beiden großen Lager hatten das Land aufgeteilt – aber sie arbeiteten zusammen. Sie buhlten gleichzeitig um die Gunst der "ehemaligen" Nazis, die aber autoritär und antihuman in ihrem Denken geblieben waren. Das ist im Grunde bis heute so. Die FPÖ, eine Gründung von Nazis und heute immer noch mit rechtsextremen Elementen, gilt immer noch als möglicher Koalitionspartner. In den Tiefenstrukturen des Staates tummeln sich einschlägige Gestalten – Burschenschafter oder ein FPÖ-Chef der Bundesheergewerkschaft, der Neonazi-Zeug verharmlost.

Österreich hat in diesen 75 Jahren selbstverständlich den Weg zur Demokratie geschafft. Das Denken breiter Kreise ist noch immer ziemlich autoritär, ein Kanzler wie Sebastian Kurz, der eine merkbare autoritäre Neigung hat, stößt in einer Krisensituation auf überwältigende Zustimmung. Politik funktioniert auch nach wie vor nach dem leicht anrüchigen Prinzip des prinzipienarmen Pragmatismus und Realismus. Gründervater Renner wäre zufrieden. Aber es hat bisher ganz gut funktioniert. Wird die inzwischen gewachsene demokratische Grundeinstellung halten, wenn die Corona-Wirtschaftskrise voll zuschlägt? Ein vorsichtiges "Ja, wahrscheinlich" ist hier angebracht. (Hans Rauscher, 25.4.2020)