Wichtige Grundlagenforschung zur Verbesserung von Menschenleben beginnt oftmals mit einem Computerspiel.

Foto: TU Graz

Ist das schon Gedankenlesen? Wenn der querschnittsgelähmte Pilot Pascal auf dem Stuhl sitzt, den Parcours des Computerspiels vor sich, denkt er nur nach – und trotzdem bewegt sich der virtuelle Rennwagen in die richtige Richtung. Will er das Auto eine Linkskurve fahren lassen, muss Pascal rechnen.

Er berechnet nicht etwa den Kurvenwinkel oder die G-Kräfte, sondern subtrahiert in Gedanken eine Zahl von der anderen. Jene Hirnströme und elektrischen Impulse, die dabei angeworfen werden, sind nämlich das entscheidende Signal für das österreichische Forscherteam Mirage 91, dass Pascal das Auto nach links steuern möchte. Für andere Manöver denkt er daran, seine Füße zu bewegen oder zu singen. So hat jedes Manöver ein für sein Team klar zuordenbares Kommando. Vier Befehle sind für den virtuellen Parcours insgesamt vonnöten.

Mirage 91, das steht für "Mind Racing Graz Established in 1991". Es handelt sich dabei um jene Gruppe von Forscherinnen und Forschern der TU Graz, die Österreich beim diesjährigen Cybathlon vertreten – einem 2016 erstmals ausgetragenen Wettkampf, bei dem sich Menschen mit körperlichen Behinderungen, sogenannte Piloten, in der Bewältigung von Alltagsaufgaben duellieren. Die Teilnehmer kommen aus aller Welt.

Pilot Pascal subtrahiert und lenkt allein gedanklich das Fahrzeug.
Foto: TU Graz

Die technischen Assistenzsysteme in den verschiedenen Kategorien reichen von Exoskeletten, Prothesen und motorisierten Rollstühlen bis hin zu jenen Elektrodenmützen, die Menschen wie Pascal einen Avatar nur mittels der Kraft seiner Gedanken steuern lassen.In Graz forscht man wie gesagt schon seit 1991 in jenem Bereich. 2014 hat sich eine Gruppe motivierter Bachelor-, Master- und Ph.D.-Studenten zusammengefunden, die seither mit größtmöglichem Praxisbezug an den Gehirn-Computer-Schnittstellen forschen und arbeiten. Ziel sei es freilich, eines Tages die Genauigkeit und Reaktionsfähigkeit so zu erhöhen, dass die Systeme auch im Alltag regelmäßig eingesetzt werden können, sagt Lea Hehenberger – von Anfang an dabei und seit 2019 Teammanagerin.

Langer Weg, kleine Erfolge

Bis man im Straßenverkehr einen Rollstuhl auf diese Art und Weise manövrieren kann, "wird es aber noch ein gutes Stück dauern", schmälert Hehenberger zu euphorische Erwartungshaltungen – auch wenn es immer wieder sehr erfreuliche Fortschritte in aller Welt zu beobachten gibt. Andere Forschungsstränge schielen etwa auch auf Anwendungsbereiche in Sachen Kommunikation und Sprache. Menschen, die sich in einem Locked-in-Status befinden, könnten auf diesem Wege endlich mit ihrer Umwelt vergleichsweise einfach und unkompliziert kommunizieren.

Die Verbesserung und Erleichterung der Lebensumstände treiben die Grazer Forscherinnen und Forscher an. Umso wichtiger sei es deshalb aber auch, dass die Grundlagenforschung die dringend notwendige Aufmerksamkeit bekommt. Globale Events wie der Cybathlon helfen dabei natürlich, sagt Hehenberger.

Regelmäßiges Training

Der Wettbewerb selbst wurde pandemiebedingt heuer bereits einmal verschoben. Die Züricher Veranstalter haben die Wettkämpfe aufgrund der Planungsunsicherheit der nächsten Wochen abermals umstrukturiert, sodass nun jedes Team einzeln bei sich zu Hause antritt und die Ergebnisse dann in einem virtuellen Rennen zusammengeführt und am 13. und 14. November ausgestrahlt werden.

So zumindest der Plan. In der aktuellen Situation steht freilich auch dieses Event auf der Kippe. Das wäre für das gesamte Team von Mirage 91 äußerst bitter. Knapp eineinhalb Jahre bereitet man sich mittlerweile auf den Cybathlon vor. Jetzt, so kurz vor dem Rennen, wurden die Trainings intensiver. Hat man im Sommer noch einmal alle zwei Wochen trainiert, finden die Einheiten gemeinsam mit Pilot Pascal mittlerweile mehrmals wöchentlich statt, sagt Hehenberger.

Das war der Cybathlon 2016.
CYBATHLON

Einen besonders kniffligen Teil des Parcours bildet heuer der Faktor Licht. Dieses könne jederzeit ausfallen, woraufhin es der Pilot – ebenfalls per Hirnsignal – selbst hinzuschalten müsse. Ein Ablesen der Lenkrichtung per Augensignal ist übrigens strengstens verboten. In den Computer eingespeist werden dürfen nur jene Signale, die über die Elektroenzephalografie aufgenommen werden.

Ziel ist ein Platz unter den Top Drei, was spätestens seit dem zweiten Platz bei einem vergleichbaren Event 2019 plausibel erscheint. Viel wichtiger als jede Platzierung ist für Mirage 91 und die gesamte Forschungscommunity aber ohnehin der Fortschritt auf dem Gebiet, um möglichst vielen Menschen ein barrierefreies Leben zu ermöglichen. (Fabian Sommavilla, 10.11.2020)